Mars Trilogie 1 - Roter Mars
deutlicher denn je zu erkennen. Wie versteckt ist doch die Wahrheit, dachte er, unter der phänomenologischen Maske. In Wirklichkeit waren alle die ganze Zeit Schauspieler, die ihre Video-Rollen spielten; und es gab keine Chance mehr, mit den wahren Persönlichkeiten in den anderen in Kontakt zu kommen. Im Laufe langer Jahre waren ihre Schalen verkrustet und die Personen drinnen atrophiert oder fortgewandert und verlorengegangen. Und jetzt waren sie alle hohl.
Oder vielleicht war es gerade bloß er. Weil sie so real schien! Ihr Lachen, ihr weißes Haar, ihre Leidenschaft - mein Gott! Ihre verschwitzte Haut und die Rippen darunter, Rippen, die unter seinen Fingern hin und her glitten wie die Latten einer Jalousie, Rippen, die sich im Paroxysmus des Orgasmus verhärteten. Ein wahres Selbst, mußte das nicht so sein? Er konnte es sich kaum anders vorstellen. Ein wahres Selbst.
Aber er täuschte sich bitter. Eines Morgens erwachte er aus einem Traum über John. Es war vor ihrer gemeinsamen Zeit in der Raumstation, als sie jung gewesen waren. Nur waren sie in dem Traum alt gewesen, und John nicht gestorben und dennoch. Er sprach als ein Geist, wissend, daß er tot war und daß Frank ihn getötet hatte, aber auch all dessen bewußt, was seither geschehen war, und ganz frei von Ärger oder Vorwurf. Es war eben einfach passiert, so wie damals, als John den Auftrag zur Erstlandung erhalten oder ihm Maya auf der Ares weggenommen hatte. Zwischen ihnen war auf die eine oder andere Weise viel geschehen, aber sie waren immer noch Freunde, immer noch Brüder. Sie konnten miteinander reden, sie verstanden einander. Als Frank diesen Horror empfand, hatte er im Traum gestöhnt und versucht, sich in sich zurückzuziehen. Dann erwachte er. Es war warm, seine Haut war verschwitzt. Maya hatte sich mit wildem Haar aufgerichtet, ihre Brüste baumelten lose zwischen ihren Armen. »Was ist los?« sagte sie. »Fehlt dir was?«
»Nichts!« schrie er, stand auf und tapste ins Bad. Aber sie kam hinter ihm her und legte ihre Hände auf ihn. »Frank, was war das?«
»Nichts«, schrie er und riß sich unwillkürlich von ihr los. »Kannst du mich nicht in Ruhe lassen?«
»Natürlich«, sagte sie gekränkt. Ein Wutanfall. »Natürlich kann ich das.« Und sie verließ das Bad.
»Natürlich kannst du das!« rief er ihr nach, plötzlich wütend über ihre Stupidität, daß sie ihn so schlecht kannte und so verwundbar war, wenn nun schon alles egal war. »Jetzt, wo du von mir bekommen hast, was du wolltest!«
»Was soll das heißen?« fragte sie und erschien wieder in der Tür des Bads, in ein Laken gewickelt.
»Du weißt, was ich meine«, sagte er grimmig. »Du hast doch vom Vertrag bekommen, was du wolltest, nicht wahr? Und das hättest du ohne mich nie erlangt.«
Sie stand mit den Händen auf den Hüften da und sah ihn an. Das Laken hing ihr locker um die Hüften, und sie sah aus wie diese legendäre französische Freiheitskämpferin, sehr schön und sehr gefährlich. Ihr Mund war ein schmaler Strich. Sie schüttelte mißmutig den Kopf und ging weg. »Du hast nicht die geringste Ahnung«, sagte sie.
Er folgte ihr. »Was meinst du?«
Sie warf das Laken fort und stieg heftig in ihre Unterwäsche und zerrte sie über ihr Hinterteil. Während sie sich anzog, warf sie ihm kurze Sätze zu. »Du weißt überhaupt nichts davon, was andere Leute denken. Du weißt nicht einmal, was du selbst denkst. Was verlangst du selber von dem Vertrag? Du, Frank Chalmers? Du weißt es nicht. Es geht nur darum, was ich will, was Sax will, was Helmut will - was jeder von ihnen will. Du selbst hast gar keine Meinung. Was immer am einfachsten zu managen ist. Was immer dir am Ende die Führung läßt.
Und was Gefühle anbetrifft!« Sie war angekleidet und stand in der Tür. Sie blieb stehen, um ihn anzustarren. Ein Blick wie ein Blitzschlag. Er hatte dagestanden, zu verdutzt, um sich zu bewegen; und so stand er jetzt nackt vor ihr, der vollen Wucht ihres Zorns ausgesetzt. »Du hast überhaupt keine Gefühle. Ich habe es versucht, glaube mir, aber du...« Sie erbebte, offenbar außerstande, Worte zu finden, die häßlich genug waren, ihn zu beschreiben. Hohl, wollte er sagen. Leer. Und dennoch...
Sie ging hinaus.
Als sie dann den neuen Vertrag unterzeichneten, war Maya nicht an seiner Seite, nicht einmal in Burroughs. Das war in mancher Hinsicht wirklich eine Erleichterung. Aber dennoch konnte er nicht umhin, sich leer und kalt in der Brust zu fühlen. Und sicher
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