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Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars

Titel: Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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sie sich. Wirklich, gar nicht so übel. Vielleicht etwas gewöhnungsbedürftig. Aber es gab immer etwas, an das man sich gewöhnen mußte.
    Zum Beispiel ein neuer Finger. Art hielt ihre Hand und massierte das neue Fingerglied leicht. »Schmerzt das? Kannst du ihn biegen?«
    Es schmerzte ein wenig und sie konnte es ein wenig biegen. Sie hatten einige Zellen aus der Knöchelzone injiziert; und jetzt war er gerade etwas länger als das erste Gelenk ihres anderen kleinen Fingers. Die Haut war noch babyrosa, ohne Kallus oder Narbe. Jeden Tag etwas größer.
    Art drückte die Spitze ganz zart und fühlte den Knochen darin. Seine Augen wurden rund. »Spürst du das?«
    »O ja. Er ist wie die anderen Finger, nur vielleicht etwas empfindlicher.«
    »Weil er neu ist.«
    »Das nehme ich an.«
    Nur der verlorene alte Finger war irgendwie mit betroffen. Die Geisterstimme kam wieder, als ob jetzt Signale von jenem Ende der Hand kämen. Art nannte das den Finger im Kopf. Und ohne Zweifel war eine Gruppe von Gehirnzellen diesem Finger gewidmet, der die ganze Zeit ein gespenstisches Leben geführt hatte. Das war mangels Anregung im Laufe der Jahre abgeklungen, kam jetzt aber auch zurück oder wurde gereizt und verstärkt. Vlads Erklärungen dieses Phänomens waren komplex. Aber wenn sie in diesen Tagen den Finger befühlte, kam er ihr ebenso groß vor wie der an der anderen Hand, selbst wenn sie hinschaute. Als ob sie eine unsichtbare Hülle über dem neuen fühlte. Zu anderen Zeiten empfand sie das kleine Ding in seiner richtigen Größe, kurz, hautartig und schwach. Sie konnte es am ersten Gelenk etwas biegen und nur ein wenig am zweiten. Das letzte Gelenk, hinter dem Fingernagel, war noch nicht da. Aber es war unterwegs. Es wuchs. Nadia machte wieder Witze darüber, daß es ständig wuchs, obwohl das ein unheimlicher Gedanke war. »Das ist doch gut«, sagte Art. »Du legst dir einen Hund zu.«
    Aber nun war sie zuversichtlich, daß das nicht geschehen würde. Der Finger schien zu wissen, was er tat. Er würde ganz in Ordnung sein. Er sah normal aus. Art war fasziniert von ihm. Aber nicht nur von ihm. Er massierte ihre Hand, die etwas wund war, und dann auch ihren Arm und die Schultern. Er würde alles an ihr massieren, wenn sie ihn gewähren ließe. Und danach, wie das Gefühl in ihrem Finger, in Armen und Schultern war, hätte sie das tun sollen. Er war so entspannt. Das Leben war für ihn immer noch alltägliches Abenteuer, voller Wunder und Frohsinn. Die Leute brachten ihn jeden Tag zum Lachen. Das war eine wundervolle Gabe. Groß, mit rundem Gesicht und rundem Körper, irgendwie Nadia selbst in gewissen Erscheinungsweisen ähnlich. Kahl werdend, unprätentiös, geschmeidig im Gang. Ihr Freund.
    Nun, natürlich liebte sie Art. Mindestens seit Dorsa Brevia. Es war ähnlich wie bei ihrem Gefühl für Nirgal, der ein überaus geliebter Neffe oder Student oder Patenkind oder Enkel oder Kind war. Und deshalb war Art einer der Freunde ihres Kindes. Tatsächlich war er ein bißchen älter als Nirgal, aber dennoch waren diese beiden wie Brüder. Das war das Problem. Aber all diese Überlegungen wurden wegen ihrer zunehmenden Langlebigkeit immer mehr hinfällig. Wenn er nur um fünf Prozent jünger war als sie, würde das noch eine Rolle spielen? Wenn sie dreißig Jahre intensiver gemeinsamer Erfahrung hinter sich gebracht hatten, wie es schon der Fall war, als Gleichgestellte und Mitarbeiter, Architekten einer Proklamation, einer Verfassung und einer Regierung; enge Freunde, Vertraute, Helfer, Massagepartner; spielte da die Anzahl der Jahre seit ihrer Jugend eine Rolle? Nein, das tat sie nicht. Das war klar, man mußte nur daran denken. Und dann versuchen, es auch zu empfinden.
    In Cairo wurde sie nicht mehr gebraucht, aber gerade jetzt in Sheffield. Nirgal würde bald zurück sein und helfen, Jackie im Zaum zu halten. Kein vergnüglicher Job, aber niemand konnte ihm dabei helfen. Es war hart, wenn man all seine Liebe auf eine Person fixierte. Wie sie es so viele Jahre lang mit Arkadij getan hatte, obwohl er für die meisten von ihnen tot gewesen war. Das ergab keinen Sinn; aber er fehlte ihr. Und trotzdem ärgerte sie sich noch über ihn. Er hatte nicht einmal lange genug gelebt, um zu begreifen, wieviel er versäumt hatte. Der glückliche Narr. Auch Art war glücklich, aber er war kein Narr. Wenigstens kein ausgesprochener. Für Nadia waren alle glücklichen Leute definitionsgemäß etwas verrückt, wie könnten sie sonst glücklich

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