Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
kollektivem Wohlergehen durch Maximierung der Kontrolle, die das Individuum über das eigene Leben hatte.
Das hatte es auf sich mit der politischen Wissenschaft. In der Theorie eine feine Sache. Aber daraus folgte, daß die Menschen, wenn sie an die Theorie glaubten, eine angemessene Zeit der Ausübung ihrer Macht widmen mußten. Das war Selbstregierung. Eine Tautologie: Das Selbst regierte. Und das erforderte Zeit. »Jene, die die Freiheit schätzen, müssen die erforderliche Anstrengung unternehmen, sie zu verteidigen«, wie Tom Paine gesagt hatte - ein Faktum, das Sax kannte, weil Bela die schlechte Gewohnheit angenommen hatte, in den Hallen Plakate aufzustellen, auf denen so anregende Sprüchlein standen. »Wissenschaft ist Politik mit anderen Mitteln«, hatte eine andere, etwas mysteriöse Äußerung gelautet.
In Da Vinci aber wollten die meisten Leute ihre Zeit nicht auf diese Weise verbringen. »Der Sozialismus wird nie siegen«, hatte Oscar Wilde bemerkt (handschriftlich auf einem anderen Plakat zu finden), »er nimmt zu viele Abende in Anspruch.« So war es auch; und die Lösung bestand darin, daß man seine Freunde veranlaßte, ihre Abende für einen in Anspruch zu nehmen. Daher die Lotteriemethode bei der Wahl, ein kalkuliertes Risiko, weil man eines Tages den Job selbst aufgehalst bekommen könnte. Aber gewöhnlich lohnte sich das Risiko. Das zeigte die Fröhlichkeit bei der diesjährigen Party. Die Gäste strömten durch die Glastüren des Gemeindehauses ein und aus zu den freien Terrassen mit Blick auf den Kratersee und führten lebhafte Unterhaltungen. Auch die Einberufenen wurden allmählich, nachdem sie sich mit Kavajava und Alkohol getröstet hatten, wieder fröhlicher. Und vielleicht war dabei auch der Hintergedanke, daß Macht schließlich Macht bedeutet. Gut, es war eine auferlegte Pflicht, aber die diesmal an der Reihe waren, konnten immerhin die eine oder andere Kleinigkeit ausrichten, die ihnen sicher gerade jetzt einfiel - Rivalen Steine in den Weg legen, Leuten, die sie beeindrucken wollten, Gefälligkeiten erweisen etc. Somit hatte das System wieder einmal funktioniert. Es gab frische Persönlichkeiten, die den ganzen polyarchischen Apparat füllten, die Ausschüsse für Nachbarschaft, für Wasser, für Bauaufsicht, für Projektbeurteilung und für ökonomische Koordination, für die Koordination all dieser kleineren Körperschaften, und für die Beratung der globalen Delegierten - das ganze Netz kleiner Managementgruppen, die progressive Theoretiker der Politik in der einen oder anderen Variante seit Jahrhunderten immer wieder vorgeschlagen hatten. Darin waren einbezogen der fast vergessene Gewerkschaftssozialismus von Großbritannien, die Arbeiterfürsorge im einstigen Jugoslawien, Landbesitz in Kerala und so weiter. Und bisher schien es in dem Sinne zu funktionieren, daß die Ingenieure von Da Vinci wohl etwa ebenso selbstbewußt und zufrieden schienen, wie sie es während der ad hoc im Untergrund verbrachten Jahre gewesen waren, als alles (scheinbar) nach Instinkt oder, um genauer zu sein, nach dem allgemeinen Konsens der (damals viel kleineren) Bevölkerung von Da Vinci geschah.
Sie schienen glücklich zu sein. Draußen auf den Terrassen standen sie in langen Reihen bei großen Krügen mit Kavajava und Irish Coffee, in lebhaften Gruppen zusammengeballt, daß die Gesamtheit der Stimmen wie Wellenrauschen klang, so wie bei jeder Cocktailparty. All diese Stimmen zusammen bildeten einen erstaunlichen Sound. Ein Chor aus Gesprächen. Es war eine Musik, der außer Sax niemand bewußt lauschte, zumindest soweit er erkennen konnte. Aber beim Hinhören kam ihm die starke Vermutung, daß dieser Klang, wenn man ihn unbewußt vernahm, das war, was die Menschen auf Parties so fröhlich und gesellig machte. Man bringe zweihundert Leute zusammen, die so laut reden, daß jede Konversation nur von ihrer kleinen Gruppe vernommen werden kann - diese Musik machten sie!
Also war der Betrieb von Da Vinci ein gelungenes Experiment, trotz des Umstands, daß die Bürger kein Interesse daran zeigten. Andernfalls wären sie nicht so vergnügt gewesen. Vielleicht war es eine gute Strategie, die Regierung zu ignorieren. Vielleicht war eine gute Regierung dadurch definiert, daß man sie ohne Schaden ignorieren konnte, »damit ich endlich an meine eigene Arbeit gehen kann!«, wie ein fröhlich beschwipster vormaliger Chef eines Wassergremiums gerade sagte. Selbstregierung wurde nicht als ein Teil der eigenen
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