Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Zigarillo aus und beugte sich vor. »Ich möchte dich um einen Gefallen bitten, Montale.«
»Schieß los.«
»Guitous Identität bleibt unter uns. Noch ein paar Tage.«
Das überraschte mich nicht. Da Guitou ein »Irrtum« der Killer W ar, blieb er eine der Schlüsselfiguren der Untersuchung. Sobald seine Identität offiziell bekannt gegeben wurde, brachte das Bewegung in die Sache. Vonseiten der Schweine, die das getan hatten. Zwangs - läufig.
»Und was sage ich meiner Cousine?«
»Es ist deine Familie. Dir wird schon was einfallen.«
»Leicht gesagt.«
Um ehrlich zu sein, passte mir das ganz gut. Ich schob den Gedanken an den Moment, in dem ich Gélou gegenübertreten musste, seit heute Morgen weit vor mir her. Ich konnte mir vorstellen, wie sie reagieren würde. Kein schöner Anblick. Und hart durchzustehen. Sie würde ihrerseits die Leiche identifizieren müssen. Formalitäten kamen auf sie zu. Die Beerdigung. Ich wusste jetzt schon, dass sie in der Sekunde der Wahrheit in eine andere Welt fallen würde. Die Welt des Schmerzes. Wo man unwiderruflich altert. Gélou, meine wunderschöne Cousine.
Loubet stand auf und legte eine Hand auf meine Schulter. Mit festem Griff. »Noch was, Montale. Mach die Sache mit Guitou bitte nicht zu deiner persönlichen Angelegenheit. Ich weiß, was du empfindest. Und ich kenne dich. Also vergiss nicht: Das ist mein Fall. Ich bin der Polizist, nicht du. Wenn du etwas herausfindest, ruf mich an. Die Rechnung geht auf mich. Ciao.«
Ich sah ihm nach, als er die Rue du Petit-Puits hinaufging. Er ging festen Schrittes, mit erhobenem Haupt und straffen Schultern. Er war aus dem Holz dieser Stadt geschnitzt.
Ich steckte mir eine Zigarette an und schloss die Augen. Sofort spürte ich die sanfte Wärme der Sonne auf meinem Gesicht. Das tat gut. Ein kurzer Moment des Glücks in dieser Welt, wo man willkürlich sechzehnjährige Jungen umbringen konnte. In den Vorstädten, direkt vor einer Disko. Oder auch in einer Privatwoh-nung. Diese Jungen lernten die vergängliche Schönheit der Welt nie kennen. Oder der Frauen.
Nein, ich würde Guitou nicht zu einer persönlichen Angelegenheit machen. Es war mehr als das. Wie ein Blutsturz. Das Bedürfnis, zu heulen. »Wenn dir gleich die Tränen kommen«, hatte meine Mutter gesagt, »und du sie gerade noch zurückhalten kannst, sind es die anderen, die weinen werden.« Sie streichelte mir den Kopf. Ich war wohl elf oder zwölf. Sie lag in ihrem Bett, unfähig, sich zu bewegen. Sie wusste, dass sie bald sterben würde. Ich wusste es auch, glaube ich. Aber ich hatte den Sinn der Worte nicht verstanden. Ich war zu jung. Tod, Leiden, Schmerz waren nicht greifbar für mich. Seitdem hatte ich in meinem Leben viele Tränen vergossen und ebenso viele hinuntergeschluckt.
Von Geburt an chourmo, hatte ich Freundschaft und Treue in den Straßen des Panier und an den Piers des Joliette-Hafens gelernt. Und den Stolz auf die großen Vorsätze, die wir uns auf der Digue du Large gesetzt hatten, als wir einem Frachter nachsahen, der aufs offene Meer hinausfuhr. Grundlegende Werte. Dinge, die sich nicht in Worte fassen lassen. Wenn es jemandem schlecht ging, hielten wir zu ihm wie eine Familie. So einfach war das. Aber es gab zu viele besorgte, trauernde Mütter in dieser Geschichte. Auch zu viele verlorene, schon aufgegebene jungen. Und Guitou war tot.
Loubet würde das verstehen. Ich konnte nicht unbeteiligt bleiben. Er hatte mir außerdem kein Versprechen abgenommen. Nur einen Rat gegeben. Zweifellos überzeugt, dass ich mich darüber hinwegsetzen würde. In der Hoffnung, dass ich meine Nase in Dinge steckte, an die er nicht herankam. So legte ich es mir jedenfalls zurecht, dann genau das hatte ich vor. Mich einmischen. Nur, um meiner Jugend treu zu bleiben. Bevor ich endgültig zum alten Eisen zählte. Weil wir alle durch unsere Gleichgültigkeit, unsere Rückzieher und unsere Feigheit altern. Und aus der Verzweiflung heraus, dies alles zu wissen.
»Wir werden alle alt«, sagte ich zu Ange und stand auf.
Er gab keinen Kommentar ab.
Zehntes Kapitel
In dem es schwer f ä llt,
an Zuf ä lle zu glauben
Ich hatte noch zwei Stunden bis zu meiner Verabredung mit Mou-rad. Ich wusste, was ich tun würde: Pavie suchen. Ihre Nachricht an Serge beunruhigte mich. Offensichtlich steckte sie nach wie vor im Schlamassel. Jetzt, wo Serge tot war, bestand die Gefahr, dass sie sich an mir festklammern würde. Ich konnte sie nicht sitzen lassen. An Pavie und Arno hatte
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