Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
sah nicht, wie ich sie ihm so direkt stellen konnte. Oder, davon mal abgesehen, eine andere. Vorläufig.
Auf dem Briefkasten stand immer noch Pavies Name. Das Gebäude war genauso baufällig wie Loles ehemaliges Haus. Die Mauern waren von Feuchtigkeit zerfressen, und es stank nach Katzenpisse. In der ersten Etage klopfte ich an die Tür. Keine Antwort. Ich klopfte noch mal und rief: »Pavie!«
Ich drehte am Türknopf. Die Tür öffnete sich. Der Geruch von indischem Weihrauch hing in der Luft. Von draußen kam kein Licht herein. Totale Finsternis.
»Pavie«, sagte ich leiser.
Ich fand den Lichtschalter, aber keine Lampe ging an. Ich machte Licht mit meinem Feuerzeug. Auf dem Tisch fand ich eine Kerze, zündete sie an und hielt sie vor mir her. Ich konnte beruhigt sein. Pavie war nicht da. Einen Moment hatte ich das Schlimmste be - fürchtet. In ihrem Einzimmerappartement waren mindestens zehn Kerzen verteilt. Das Bett auf dem Boden war gemacht. Weder in der Spüle noch auf dem kleinen Tisch neben dem Fenster stand schmutziges Geschirr. Es war sogar sehr sauber . Das beruhigte mich endgültig. Pavie ging es vielleicht schlecht aber sie schien standzu - halten. Ordnung und Sauberkeit waren fü r eine ehemalige Drogen - abhängige ein recht gutes Zeichen.
Das waren leere Worte, das wusste ich. Ein gutes Gefühl. Wer einmal an der Nadel hing, leidet oft unter Depressionen. Fast schlimmer als »vorher«. Pavie hatte ein erstes Mal aufgehört, als sie Arno kennen lernte. Mit Arno war es ihr ernst. Sie war ihm hinterhergelaufen. Monatelang. Wo er auch hinging, tauchte sie auf. Er konnte kaum noch in Ruhe einen Halben im Balto trinken. Eines Abends saß eine ganze Bande von ihnen am Tisch. Sie war auch da, wie eine Klette. Er hatte ausgetrunken und gesagt: »Ich für meinen Teil gehe nicht einmal mit einem Kondom mit einer Fixerin ins Bett.«
»Hilf mir.« Das war alles, was sie sagte. Es gab nur noch sie beide auf der Welt. Die anderen zählten nicht mehr.
»Willst du es wirklich?«, fragte er.
»Ich will dich. Das will ich.«
»Okay.« Er nahm sie bei der Hand und zog sie aus der Kneipe. Er brachte sie zu sich nach Hause, hinter Saadnas Schrottplatz und schottete sie von der Welt ab. Einen Monat. Zwei Monate. Er kümmerte sich nur noch um sie, ließ alles andere stehen und liegen. Sogar seine Motorräder. Nicht eine Sekunde ließ er sie aus den Augen. Er führte sie täglich in die Buchten der Côte Bleue. Carry, Carro, Ensues, La Redonne. Er zwang sie, von einer kleinen Bucht zur nächsten zu wandern, zu schwimmen. Er liebte seine Pavie. Wie sie nie zuvor geliebt worden war.
Danach war sie rückfällig geworden. Nach seinem Tod. Letztend - lich war das Leben einen Dreck wert.
Serge und ich hatten Pavie schließlich im Balto gefunden. Vor einer Tasse Kaffee. Seit vierzehn Tagen war sie uns immer wieder ent - wischt.
Ein Junge hatte uns einen Wink gegeben: »Sie lässt sich von jedem vögeln, in den Kellern. Für dreihundert Francs.« Das reichte kaum für einen miesen Trip.
Irgendwie hatte sie uns an jenem Tag im Balto erwartet. Wie e ine Hoffnung. Die letzte. Das allerletzte Aufbäumen vor dem Unter - gang. In zwei Wochen war sie um zwanzig Jahre gealtert. Sie hing schlaff vor der Glotze. Hohle Wangen, trüber Blick. Fettige Haare. Vor Dreck strotzende Klamotten.
»Was machst du da?«, fragte ich blöd.
»Das siehst du doch, ich gucke fern. Ich warte auf die Nachrichten. Es scheint, der Papst ist tot.«
»Wir haben dich überall gesucht«, sagte Serge.
»Ach, ja. Kann ich deinen Zucker haben?«, fragte sie, als Rico, der Wirt, ihm einen Kaffee brachte. »Blitzschnell seid ihr nicht gerade, was. Vor allem du, Bulle. Wir können ruhig alle verschwinden, ihr findet uns bestimmt nicht. Alle, hörst du. Kannst du mir verraten, warum man uns suchen sollte? He?«
»Hör auf«, sagte ich.
»Wenn du mir ein Sandwich ausgibst. Seit gestern nichts gegessen, verstehst du. Für mich ist das nicht so einfach wie für euch. Mich ernährt keiner. Euch füttert der Staat. Wenn es uns nicht gäbe mit unseren Dummheiten, würdet ihr vor Hunger krepieren.« Das Sand - wich kam, und sie hielt den Mund.
Serge legte los. »Du hast die Wahl, Pavie. Entweder du gehst frei - willig zum Entzug in die psychiatrische Klinik Edouard Toulouse, oder Fabio und ich lassen dich in eine geschlossene Anstalt einwei - sen. Aus medizinischen Gründen. Du kennst die Masche. Wir werden schon einen guten Grund finden.«
Wir diskutierten seit
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