Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
hatten. Aber vielleicht täuschte ich mich. Die Rückzug der Kommunisten bei den Wahlen in diesen Vierteln hatte Platz für jede Form von Demagogie gemacht. Die Extremisten des Front National brauchten nur noch einen Aufguss ihrer alten Parolen zu machen, um sich gut zu verkaufen. Selbst bei den Einwanderern, wie es scheint.
»Willst du es lesen?«, fragte ich Mourad, der sich neben mich gesetzt hatte.
»Ich habe über deine Schulter mitgelesen.«
Ich faltete das Flugblatt wieder zusammen und legte es zurück an dieselbe Stelle im Koran. In der Nachttischschublade: Vier Fün fhundert-Francs-Scheine, eine Schachtel Präservative, ein Feuerzeug, zwei Passfotos. Ich machte die Schublade wieder zu. Da sah ich die Gebetsteppiche, aufgerollt in einer Ecke des Zimmers. Ich löste sie. Und fand noch mehr Flugblätter. Etwa hundert, Diese trugen einen arabischen Titel. D er Text, in Französisch, war kur z: »Beweist, dass ihr keine Strohköpfe seid! Schmeißt einen Stein, lasst eine Bombe hochgehen, legt eine Mine, entführt ein Flugzeug!«
Ohne Unterschrift, versteht sich.
Ich hatte genug gesehen. Vorerst. »Komm. Das reicht, gehen wir.«
Mourad rührte sich nicht von der Stelle. Er schob seine rechte Hand zwischen die Polster der Ausziehliege und zog eine blaue Plastiktüte hervor. Einen aufgerollten Müllsack.
»Und das willst du nicht sehen?«
Darin waren eine 22er-Kanone und etwa zehn Schuss Munition.
»Scheiße!«
Ic h weiß nicht, wie viel Zeit verging. Bestimmt nicht mehr als eine Min ute. Aber diese Minute zog sich hin wie einige Jahrhunderte, b is in die Vorzeit. Vor dem Feuer. Dort, wo es nur Nacht, Bedro hung und Angst gab. In der Etage unter uns brach ein Streit aus . Die Frau hatte eine schrille Stimme. Die des Mannes war rau müde.
Mourad brach das Schweigen. Voller Überdruss. »Das geht fast jeden Abend so. Er ist arbeitslos. Langzeitarbeitsloser. Schläft den ganzen Tag. Und säuft. Und dann fängt sie an zu zetern.« Schließlich sah er mich an. »Du glaubst doch aber nicht, dass er ihn umge - bracht hat?«
»Ich glaube gar nichts, Mourad. Aber du hast deine Zweifel, nicht wahr? Du kannst es nicht ganz ausschließen.«
»Nein, das habe ich nicht gesagt! Das kann ich nicht glauben. Dass mein Bruder das macht. Aber ... Es stimmt, ich habe Angst um ihn, verstehst du. Dass er in etwas hineinschlittert, das ihm über den Kopf wächst, und eines Tages, nun ... Dass er es benutzt, so ein Ding.«
»Ich glaube, er sitzt schon drin. Tief.«
Das Schießeisen lag zwischen uns auf dem Bett. Waffen hatten mich immer mit Entsetzen erfüllt. Sogar als Bulle. Meine Dienstwaffe hatte ich nur zögerlich benutzt. Ich wusste: Ein Druck auf den Abzug reichte. Der Tod lauerte unter der Fingerspitze. Ein einziger Schuss, und für den anderen konnte es böse enden. Eine einzige Kugel für Guitou. Drei für Serge. Wenn man einmal abgedrückt hat, kann man auch dreimal schießen. Oder öfter. Und noch mal. Töten.
»Es ist so, verstehst du. Sowie ich aus der Schule komme, sehe ich nach, ob sie noch da ist. Solange sie da ist, kann er keine Dummheiten machen, denke ich mir. Hast du schon mal getötet?«
»Nie. Nicht mal ein Kaninchen. Ich habe auch nie auf jemanden geschossen. Nur auf Pappe bei den Schießübungen. Und auf dem Jahrmarkt. Treffer sogar. Ich war als guter Schütze bekannt.«
»Nicht als Bulle?«
»Nein, nicht als Bulle. Ich hätte nie auf jemanden schießen können. Nicht einmal auf den hinterletzten Dreckskerl. Das heißt, vielleicht doch. In die Beine. Meine Kollegen wussten das. Meine Chefs natürlich auch. Ansonsten weiß ich nicht. Ich habe nie meine Haut retten müssen. Durch töten, meine ich.«
In den Fingern hatte es mich schon gejuckt. Aber das erzählte ich Mourad nicht. Es reichte schon, zu wissen, dass ich das manchmal in mir hatte. Diesen Wahn. Denn ja, Herrgott noch m al, den, der Guitou mit einer einzigen Kugel getötet hatte, ohne ihm die geringste Chance zu lassen, den hätte ich gern abgeknallt. Natürlich würde das nichts, aber auch gar nichts ändern. Mörder wachsen nach. Immer. Aber es würde mein Herz erleichtern. Vielleicht.
»Du solltest das Ding mitnehmen«, sagte Mourad. »Du wirst schon wissen, wohin damit. Mir wäre es lieber, wenn es nicht mehr da ist.«
»Okay.« Ich wickelte die Waffe wieder in den Plastiksack.
Mourad stand auf und ging nervös im Zimmer auf und ab, die Hände in den Taschen. »Anselme sagt, Redouane ist nicht böse, weißt du. Aber dass er
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