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Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea

Titel: Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jean-Claude Izzo
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Saint-Nicolas. Und dort, der Pharo-Park. Guck mal, und dahinter ist das Meer. Das große, weite Meer.« Ich spürte seine starken Hände unter den Achseln. Wie alt mochte ich gewesen sein? Sechs oder sieben, mehr nicht. In jener Nacht hatte ich davon geträumt, Seemann zu werden.
    An der Place de la Mairie machten die Alten neuen Alten Platz. Die junge Mutter sah mich an, bevor sie von Bord ging. Ich lächelte ihr zu.
    Eine Schülerin stieg zu. Von der Art, wie sie in Marseille mehr als anderswo aufblühen. Vater oder Mutter mochten von den Antillen sein. Lange, lockige Haare. Kleine, feste Brüste. Ein geblümter Rock. Sie bat mich um Feuer, weil ich sie angesehen hatte. Dabei warf sie mir einen ernsten Blick à la Lauren Bacali zu. Dann postierte sie sich auf der anderen Seite der Kabine. Ich kam nicht dazu, ihr zu danken. Für die Freude, die sie mir mit ihrem Blick gemacht hatte.
    Als ich zurück war, machte ich mich am Kai entlang auf den Weg zu Gélou. Bevor ich das Oursin verlassen hatte, hatte ich im Hotel angerufen. Sie erwartete mich im New York. Ich wusste nicht, was ich tun würde, wenn Narni da war. Vielleicht würde ich ihn auf der Stelle erwürgen.
    Aber Gélou war allein.
    »Alexandre ist nicht da?«, fragte ich, als ich sie umarmte.
    »Er wird in einer halben Stunde hier sein. Ich wollte dich unter vier Augen sprechen. Fürs Erste. Was ist los, Fabio? Mit Guitou.«
    Gélou hatte Ringe unter den Augen. Sie war von Angst gezeichnet. Die Warterei, Über müdung, all das. Aber schön war si e, meine Cousine. Immer noch. Ich wollte sie noch einmal bewundern, so wie sie hier u nd jetzt aussah. Warum hatte das Leben es nicht gut mit ihr gemeint? Hatte sie ihre Hoffnungen zu hoch geschraubt? Zu viel erwartet? Aber sind wir nicht alle so? Von dem Moment an, in dem wir die Augen aufschlagen? Gibt es Leute, die nichts vom Leben verlangen?
    »Er ist tot«, sagte ich sanft. Ich nahm ihre Hände. Sie waren noch warm. Dann sah ich ihr in die Augen. Mit all der Liebe, die ich für magere Zeiten aufgehoben hatte.
    »Nein«, stammelte sie.
    Ich fühlte, wie das Blut aus ihren Händen wich. »Komm« sagte ich.
    Und ich zwang sie, aufzustehen, hinauszugehen. Bevor sie zusammenbrach. Ich legte meinen Arm um ihre Schultern wie ein Liebhaber. Sie fasste mich um die Taille. Wir gingen über die dicht befahrene Straße. Ohne uns um die quietschenden Bremsen zu kümmern. Hupen. Der Hagel von Beschimpfungen. Es gab nur noch uns. Uns zwei. Und diesen geteilten Schmerz.
    Wir gingen am Kai entlang. Schweigend. Eng aneinander ge - schmiegt. Einen Augenblick überlegte ich, wo dieser Mistkerl war. Denn weit konnte Narni nicht sein. Er musste irgendwo auf der Lauer liegen. Und sich fragen, wann er mir endlich eine Kugel in den Kopf schießen konnte. Davon träumte er bestimmt. Ich auch. Dafür war die Knarre, die ich seit gestern Abend mit mir herum - kutschierte. Und ich hatte einen Vorteil gegenüber Narni: Ich wusste jetzt, was für ein mieses Stück Dreck er war.
    Gélous Schulter begann unter meiner Hand zu zucken. Die Tränen kamen. Ich blieb stehen und drehte Gélou zu mir hin. Ich nahm sie in die Arme. Sie presste sich mit ihrem ganzen Körper an mich. Wie zwei Liebende, die ganz verrückt nacheinander waren. Die Sonne verschwand bereits hinter dem Kirchturm von Accoules.
    »Warum?«, fragte sie durch die Tränen.
    »Das spielt jetzt keine Rolle mehr. Fragen. Oder Antworten. Es ist einfach so, Gélou. So und nicht anders.«
    Sie sah mich an. Am Boden zerstört. Ihr Make-up war natürlich verlaufen. Lange, blaue Striemen. Ihre Wangen sahen aus wie von Rissen durchzogen, wie nach einem Erdbeben. Ich konnte zusehen, wie sie sich nach innen zurückzog. Für immer. Gélou verließ uns. Weit weg. Ins Land der Tränen.
    Dennoch klammerte sie sich verzweifelt mit Händen und Augen an mir fest. An allem, was uns seit unserer Kindheit verband. Sie wollte auf der Erde bleiben. Aber ich konnte ihr nicht helfen. Ich hatte kein Kind zur Welt gebracht. War keine Mutter. Nicht mal Vater. Und alle Worte, die ich ihr sagen konnte, stammten aus dem Lexikon menschlicher Unzulänglichkeit. Es gab nichts zu sagen. Ich hatte nichts zu sagen.
    »Ich bin da«, flüsterte ich nah an ihrem Ohr.
    Aber es war zu spät.
    Wenn der Tod uns erst einmal eingeholt hat, ist es immer zu spät.
    »Fabio ...« Sie brach ab. Legte ihre Stirn an meine Schulter. Langsam beruhigte sie sich. Das Schlimmste würde später kommen. Ich strich ihr zärtlich übers Haar,

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