Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Bandenkrieg auslösen, den Marseille zur Zeit wahrhaftig nicht gebrauchen konnte. Die Wirtschaftskrise lastete schon schwer genug auf der Stadt. Die Gesellschaft für die Fährverbindungen nach Korsika drohte, ihre Schiffe zu verlegen. Es war die Rede von Toulon oder La Ciotat, einer alten Werft 40 Kilometer von Marseille. Seit Monaten stand die Gesell - schaft im Konflikt mit den Hafenarbeitern. Die Docker hatten seit 1947 das Einstellungsmonopol an den Kais. Diese Bestimmungen wurden nun in Frage gestellt.
Die Stadt verhielt sich angesichts dieser eisernen Unnachgiebigkeit unentschlossen. In allen anderen Häfen wurde nachgegeben. Aber für die Marseiller Hafenarbeiter ging es um die Ehre, auf die Gefahr hin, dass die Stadt verhungerte. Die Ehre steht hier an erster Stelle. »Du hast keine Ehre«, war hier die schwerste Beleidigung. Für die Ehre konnte man töten. Den Liebhaber der Ehefrau, den Schänder der Schwester oder den, der den Ruf der Mutter besudelt hatte.
Deshalb war Ugo zurückgekommen. Wegen der Ehre. Manus Ehre und Loles Ehre. Zu Ehren unserer Jugend und gemeinsamen Freundschaft und der Erinnerungen.
»Er hätte nicht zurückkommen sollen.«
Honorine schaute von ihrer Kaffeetasse auf. Ich sah ihrem Blick an, dass sie noch etwas anderes quälte. Die Falle, die über mir zuschnappte. Hatte ich Ehre? Ich war der letzte Erbe aller Erinnerungen. Konnte ein Polizist um der Gerechtigkeit willen das Gesetz übertreten? Und wer scherte sich um Gerechtigkeit, wenn es um einen Kriminellen ging? Niemand. Das sagten Honorines Augen. Sie versuchte, sich Zuversicht einzureden, glaubte aber letztendlich selber nicht daran. Und sie sah mich in der Gosse liegen. Fünf Kugeln im Rücken, wie Manu. Oder drei, wie Ugo. Drei oder fünf, was machte das schon aus. Eine reichte, um jämmerlich im Rinnstein zu krepieren. Honorine wollte das nicht. Ich war der Letzte. Die Ehre der Überlebenden liegt im Überleben. Aufrecht bleiben. Leben hieß der Stärkere sein.
Ich hatte sie vor ihrem Kaffee sitzen lassen. Das Gesicht hätte meiner Mutter gehören können. Mit den Falten einer Frau, die zwei ihrer Söhne in einem Krieg verloren hat, der ihr nichts bedeutete. Sie hatte weggeschaut. Auf das Meer.
»Er hätte mich besuchen sollen«, hatte sie gesagt.
Seit ihrer Eröffnung war ich keine zehn Mal mit der Metro der Linie 1 gefahren. Castelanne-La Rose. Aus den Schickimicki-Vierteln, in die sich das Stadtzentrum mit seinen Bars, Restaurants und Kinos verlagert hatte, in die nördlichen Viertel, in die man sich besser nicht verirrte, wenn es nicht unbedingt sein musste.
Seit einigen Tagen machte eine Bande jugendlicher Beurs Unfug auf der Strecke. Die Sicherheitsbeamten der Metro neigten zu drastischen Maßnahmen. »Die Araber verstehen nichts anderes.« Den Spruch kannte ich. Er hatte sich nur nicht bewährt. Weder in der Metro noch in der Eisenbahn. Harte Eingriffe der Beamten wurden vergolten. Ein blockiertes Gleis auf der Linie Marseille-Aix, gleich hinter dem Bahnhof Septêmes-les-Vallons, vor einem Jahr. Steinwürfe auf die Bahn in der Station Frais— Vallon vor sechs Monaten.
Ich hatte daher einen anderen Weg vorgeschlagen: die Verständigung mit der Bande. Nach meiner Methode. Die Metro-Sheriffs hatten mich ausgelacht. Aber die Direktion gab ihnen ausnahms - weise nicht nach, und ich hatte freie Bahn.
Pérol und Cerutti begleiteten mich. Es war 18 Uhr. Die Vorstellung konnte beginnen. Vor einer Stunde hatte ich auf einen Sprung in Driss' Garage vorbeigeschaut. Ich wollte über Leila sprechen.
Driss machte gerade Feierabend. Während ich auf ihn wartete, redete ich mit seinem Chef. Ein begeisterter Befürworter der Lehr - lingsverträge. Vor allem, wenn die Lehrlinge wie die Arbeiter schuften. Und Driss ließ sich auf der Arbeit nichts nachsagen. Er rauchte Haschisch. Jeden Abend nahm er seine Dosis. Es war nicht so ungesund wie Crack oder Heroin. Hieß es. Ich glaubte das auch. Aber den Kopf benebelte es trotzdem. Driss musste sich dauernd beweisen. Und nicht vergessen: ja, Monsieur, nein, Monsieur. Und immer schön die Klappe halten, denn, Scheiße, letztendlich war er doch nur ein Araber. Noch hielt er sich gut.
Ich hatte ihn in die nächste Eckkneipe geschleppt. Le Disque Bleu. Eine schmierige Kneipe, ganz wie der Wirt. Seiner Fresse nach zu urteilen, hatten Araber hier allenfalls das Recht, Lotto zu spielen, Pferdewetten abzuschließen und im Stehen zu trinken. Mit einer vagen Geringschätzung à la Gary
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