Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
zwanzig, klein, in Jeans und Leinenjacke. Der andere war mittelgroß mit fast polierter Glatze und kein Jahr älter. Hose, schwarze Leinenjacke. Ich merkte mir die Nummer des Taxis in dem Moment, in dem es abfuhr: 675 JLT 13. Ein Reflex. Die Schießerei begann. Der Kleinste feuerte als Erster. Auf den Leib-Wächter. Dann drehte er sich um und schoss auf den Fahrer, der aus dem Auto stieg. Der andere leerte sein Magazin auf A l Dakhil.
Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Morvan mit seinem rasierten Schädel warf sich zu Boden, ohne sich umzudrehen. Der andere duckte sich, die Waffe in der Hand, zwischen zwei Wagen. Nach einem kurzen Blick hinter sich — zu kurz — wich er zurück. Sandoz und Mériel schossen gleichzeitig. Schreie ertönten. Plötzlich gab es einen Menschenauflauf. Argues Männer. Neugierige.
Ich hörte Polizeisirenen. Das Taxi war links über die Rue Francis Davso hinter der Oper verschwunden. Argue kam aus der Commanderie, die Hände in den Jackentaschen. In meinem Rücken spürte ich Marie-Lous warme Brüste.
»Was ist los?«
»Nichts Schönes.«
Ich untertrieb. Das war eine Kriegserklärung. Aber Ugo hatte Zucca getötet. Was ich gerade gesehen hatte, haute mich um. Alles schien inszeniert gewesen zu sein. Bis ins kleinste Detail.
»Eine Abrechnung.«
»Scheiße. Das wird mein Geschäft nicht gerade beflügeln!«
Ich brauchte dringend eine Stärkung. Um mich nicht in Fragen zu verheddern. Nicht jetzt. Am liebsten hätte ich alles ausgespien. Vergessen. Die Bullen, die Ganoven. Manu, Ugo, Lole . Leila. Und vor allem mich selbst. Mich in nichts aufgelöst. Ich brauchte Alkohol und Marie-Lou. Schnell.
»Stell dein Taxameter auf › besetzt ‹. Ich lade dich zum Essen ein.«
Viertes Kapitel
In dem ein Cognac auch nicht
mehr schaden kann
Ich fuhr hoch. Da war ein dumpfes Geräusch gewesen. Dann hörte ich ein Kind schreien. Im Stock über mir. Für einen kurzen Moment wusste ich nicht, wo ich war. Ich hatte einen schlechten Geschmack im Mund und einen schweren Kopf. Ich lag vollständig angezogen auf dem Bett, Loles Bett. Jetzt erinnerte ich mich. Als ich Marie-Lou am frühen Morgen verlassen hatte, war ich hierher gekommen. Ich hatte die Tür aufgebrochen.
Es hatte keinen Grund gegeben, länger am Opernplatz herumzuhängen. Das Viertel war abgesperrt. Bald würde es von Bullen aller Art wimmeln. Zu viele Leute, die ich nicht treffen wollte. Ich hatte Marie-Lou untergehakt und sie auf die andere Seite des Cours Jean Ballard, zur Place Thiars, geführt. Zu Mario. Ein Teller mit Mozzarella, Tomaten, Kapern, Anchovis und schwarzen Oliven. Eine Portion Spaghetti mit Muscheln. Ein Tiramisu. Das Ganze begossen mit einem Bandol aus dem Anbaugebiet Pibar-non.
Wir sprachen über alles und nichts. Sie mehr als ich. Wehmütig. Sie zog ihre Worte in die Länge, als würde sie einen Pfirsich schälen. Ich hörte ihr zu, aber nur mit den Augen. Ich ließ mich von ihrem Lächeln, dem Schwung ihrer Lippen, ihren Lachgrübchen und der erstaunlichen Beweglichkeit ihres Gesichts davontragen. Sie anzu - sehen und ihr Knie an meinem zu spüren, erlaubte kein Nach - denken.
»Welches Konzert?«, fragte ich schließlich.
»Aber wo lebst du denn! Das Konzert. In der Friche. Mit Massilia.«
Die Friche ist die ehemalige Tabakfabrik. Ein Gelände von hun - dertzwanzigtausend Quadratmetern hinter dem Bahnhof Saint-Charles. Es erinnert an die von Künstlern besetzten Häuser in Berlin oder an das Kulturzentrum PSI in New York. In der Fric h e waren Ateliers, Studios, die Zeitung Taktik, Radio Grenouille, ein Restaurant und ein Konzertsaal eingerichtet worden.
»Fünftausend waren wir. Genial! Die Typen verstehen, dir einzuheizen.«
»Verstehst du denn provenzalisch?«
Die Hälfte von Massilias Chansons war in ihrer Mundart. Dem maritimen Provenzalischen. Dem Marseiller Französisch, wie sie in Paris sagen. Parlam de realitat dei cavas dau quotidian, sang Massilia.
»Was geht dich das an. Verstehen oder nicht verstehen. Wir sind Galeerensträflinge, keine Schwachsinnigen. Es reicht, wenn du das verstehst.«
Sie sah mich neugierig an. Vielleicht war ich wirklich schwachsinnig. Ich verlor immer mehr den Bezug zur Realität. Ich kreuzte blind durch Marseille. Ich sah nur noch stumpfe Brutalität und schwelenden Rassismus. Ich vergaß, dass es auch noch anderes im Leben gab. Dass man in dieser Stadt trotz allem gern lebte und feierte. Dass das Glück jeden Tag neugeboren wurde, auch wenn es mitten in der Nacht
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