Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Sein Blick blieb zwischen den Schenkeln einer üppigen Blon - dine hängen. Dann ließ er sich dazu herab, zu mir aufzublicken.
»Was willst du?«, fragte er mit einem starken korsischen Akzent.
Ich zeigte ihm meine Karte. Er sah kaum hin, als kenne er sie auswendig.
»Können Sie es entziffern?«, fragte ich.
Er rückte leicht an seiner Brille und sah mich desinteressiert an. Sprechen schien ihn anzustrengen. Ich erklärte ihm, dass ich wissen wolle, wer am Samstagabend den Renault 21, Zulassungsnummer 675 JLT 13, gefahren habe. Es ginge um eine überfahrene rote Ampel auf der Avenue des Aygalades.
»Nach solchen Sachen fahndet ihr?«
»Wir gehen allem nach. Sonst schreiben die Leute ans Ministerium. Wir hatten eine Beschwerde.«
»Eine Beschwerde? Wegen eines überfahrenen Rotlichts?«
Der Himmel fiel ihm auf den Kopf! In was für einer Welt lebten wir!
»Da sind überall Fußgänger«, sagte ich.
Diesmal nahm er seine Sonnenbrille ab und sah mich aufmerksam an. Bei anderer Gelegenheit hätte ich mich halb totgelacht. Ich zuckte gelangweilt mit den Schultern.
»Klar, und wir zahlen Steuern für diesen Schwachsinn. Es war besser, ihr würdet weniger Zeit mit solchen Bagatellen verlieren. Was wir brauchen, ist Sicherheit.«
»Die Fußgänger auch.« Er begann mir auf die Nerven zu gehen. »Name, Vorname, Adresse und Telefon des Fahrers?«
»Wenn er auf dem Revier vorsprechen muss, sag ich ihm Bescheid.«
»Ich bin es, der hier vorlädt. Schriftlich.«
»Von welchem Revier sind Sie?«
»Hauptquartier.«
»Kann ich Ihren Ausweis noch mal sehen?«
Er nahm ihn und kritzelte meinen Namen auf ein Stück Papier. Mir war bewusst, dass ich übers Ziel hinausgeschossen war. Aber jetzt war es zu spät. Er gab mir die Karte zurück, als hätte er sich die Finger daran verbrannt.
»Montale, Italiener, stimmts?«
Ich nickte. Er schien schwer nachzudenken. Dann sah er mich an: »Wegen einer roten Ampel werden wir uns bestimmt einigen. Wir sind Ihnen ja immer gern behilflich.«
Noch fünf Minuten von diesem Geschwätz, und ich würde ihn mit seiner Goldkette erwürgen oder ihm den Jesus ins Maul stopfen. Er blätterte in einem Register, fand eine Seite und ließ seinen Finger über eine Liste gleiten.
»Pascal Sanchez. Notieren Sie, oder muss ich es aufschreiben?«
Pérol brachte mich auf den aktuellen Stand des Tages. 11.30 Uhr. Minderjähriger beim Diebstahl aus der Warenauslage bei Carrefour erwischt. Eine Bagatelle, aber wir mussten trotzdem die Eltern be - nachrichtigen und eine Akte anlegen. 13.13 Uhr. Eine Schlägerei zwischen drei Zigeunern und einem Mädchen aus dem Milieu, im Balto, einer Kneipe am Chemin du Merlan. Alle waren festgenom - men und mangels Kläger gleich wieder entlassen worden. 14.18 Uhr. Funkruf. Eine Mutter bringt ihren Sohn mit schweren Prel - lungen im Gesicht ins Bezirksrevier. Die Schläge und Verletzungen wurden ihm im Gymnasium Marcel Pagnol absichtlich zugefügt. Die angeblichen Täter und ihre Eltern wurden vorgeladen. Gegen - überstellung. Die Geschichte dauerte den ganzen Nachmittag. Weder Drogen noch Erpressung, offenbar. Trotzdem zu verfolgen. Predigt an die Eltern in der Hoffnung, dass sie etwas nützt. Routine.
Aber die gute Nachricht war, dass wir endlich Nacer Mourrabed stellen konnten, einen jungen Dealer, der im Bassens-Viertel operierte. Er hatte sich am Vorabend beim Verlassen des Miramar, einer Kneipe in L'Estaque, geprügelt. Der Typ hatte eine Klage eingereicht. Besser noch: Er hatte sie aufrechterhalten und auf dem Revier vorgesprochen, um seine Aussage zu machen. Viele bekamen kalte Füße, und wir sahen sie nie wieder. Sogar bei einem Diebstahl ohne Gewaltanwendung. Aus Angst. Und mangelndem Vertrauen zur Polizei.
Mourrabed kannte ich in-und auswendig. Zweiundzwanzig Jahre alt, sieben Mal festgenommen. Das erste Mal mit fünfzehn, ein gutes Durchschnittsalter. Aber er war schlau. Wir konnten ihm nie etwas nachweisen. Vielleicht diesmal.
Er dealte seit Monaten im großen Stil, ohne sich die Finger schmutzig zu machen. Fünfzehn-, sechzehnjährige Burschen arbeiteten für ihn. Sie machten die Drecksarbeit. Der eine schleppte den Stoff an, der andere kassierte die Kohle. Sie waren acht bis zehn von der Sorte. Er führte vom Wagen aus die Aufsicht und sahnte später ab. In einer Kneipe, in Bus oder Bahn, im Supermarkt. Der Ort wechselte ständig. Niemand versuchte, ihn zu hintergehen. Einer hatte ihn mal ausgetrickst. Es passierte kein zweites Mal. Der
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