Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
ging, ohne sich umzudrehen. Ich schaute ihm nach und bestellte noch einen Kaffee. Die beiden italienischen Touristen standen auf und gingen mit einem überschwänglichen »Ciao, ciao«.
Wenn Ugo noch Familie in Marseille hatte, las sie offenbar keine Zeitung. Niemand war aufgetaucht, nachdem er sich hatte niederschießen lassen, auch nicht, nachdem die Todesanzeige in den Mor - genausgaben dreier Tageszeitungen erschienen war. Freitag hatte ich die Genehmigung erhalten, ihn zu bestatten. Ich musste mich entscheiden. Ich wollte ihn nicht wie einen Hund in einem Massen - grab verschwinden sehen. Ich hatte mein Sparschwein geschlachtet und die Beerdigungskosten übernommen. Dieses Jahr würde ich eben nicht in Urlaub fahren. Ich fuhr sowieso nie in Urlaub. Die Typen öffneten die Gruft. Es war die meiner Eltern. Für mich war auch noch ein Platz darin. Aber ich hatte beschlossen, mir Zeit zu lassen. Ich sah nicht ein, wieso es meine Eltern stören sollte, ein bisschen Gesellschaft zu bekommen. Es war höllisch heiß. Ich betrachtete das dunkle, feuchte Loch. Das würde Ugo nicht gefallen. Niemand mochte das. Leila auch nicht. Ihre Beerdigung war morgen. Ich hatte noch nicht entschieden, ob ich hingehen würde oder nicht. Für Mouloud und seine Kinder war ich nur noch ein Fremder. Und ein Bulle, der nichts verhindern konnte.
Die Fassade bröckelte ab. Ich hatte die letzten Jahre ruhig und gleichgültig gelebt. Weltverloren. Nichts berührte mich wirklich. Die alten Kumpel, die nicht mehr anriefen. Die Frauen, die mich verließen. Meine Träume und meine Wut, die ich auf halbmast gesetzt hatte. Ich wurde wunschlos alt. Ohne Leidenschaft. Ich schlief mit Huren. Und das Glück hing am Ende einer Angelrute.
Manus Tod hatte vieles aufgerüttelt. Aber immer noch zu schwach auf meiner Richterskala. Erst der Mord an Ugo brachte alles zum Einsturz. Er riss mich aus meinem künstlichen Schlaf. Ich erwachte zum Leben. Und wurde verrückt. Was immer ich von Manu und Ugo hielt, es änderte nichts an meiner Vergangenheit. Sie hatten gelebt. Ich hätte mich gern mit Ugo unterhalten, seinen Reisebe - richten gelauscht. Nachts auf den Felsen vor der Fischerhütte hatten wir nur von Abenteuerfahrten geträumt.
»Guter Gott, warum wollen sie nur so weit wegrennen?«, hatte Toinou geschimpft. Er hatte Honorine als Zeugin genommen. »Was wollen sie denn sehen, diese Gören, he? Na, kannst du mir das sagen! Alle Länder sind hier versammelt. Vertreter aller Rassen. Eine Kostprobe aus allen Breiten.« Honorine hatte uns einen Teller Fischsuppe hingestellt.
»Unsere Väter sind von woanders gekommen. Sie sind in dieser Stadt gelandet. Na und! Sie haben gefunden, was sie gesucht haben. Und wenn nicht, mein Gott, sind sie trotzdem geblieben.«
Er hatte tief Luft geholt und uns wütend angesehen.
»Probiert das!«, hatte er geschrien und auf unsere Teller gezeigt. »Das ist Medizin gegen eure Flausen!«
»Man stirbt hier«, hatte Ugo zu sagen gewagt.
»Woanders stirbt man auch, mein Junge. Das ist schlimmer!«
Ugo war zurückgekommen, und er war tot. Ende der Reise. Ich nickte den Sargträgern zu. Der Sarg wurde von dem dunklen, feuchten Loch verschlungen. Ich schluckte meine Tränen hinunter. Der Blutgeschmack im Mund blieb.
Ich hielt bei der Taxizentrale an der Ecke Boulevard de Plombiere und Boulevard de la Glacière. Ich wollte die Spur des Taxis z urückverfolgen. Sie führte vielleicht nirgendwohin, aber sie war die einzige Verbindung zwischen den beiden Mördern vom Opern - platz und Leila.
Der Typ im Büro blätterte gelangweilt in einem Pornoheft. Der perfekte Mia. Haare hinten lang, vorn hochgeföhnt. Offenes geblümtes Hemd über schwarz behaarter Brust, dicke Goldkette, Jesusanhänger mit Diamantenaugen, zwei gewaltige Klunkern an jeder Hand, Ray-Ban-Brille auf der Nase. Der Ausdruck Mia kam aus Italien, von der Autofirma Lancia. Sie hatte einen Wagen auf den Markt gebracht, den Mia, mit einer Öffnung im Fenster, durch die der Fahrer den Ellenbogen heraushängen kann, ohne die Scheibe herunterzukurbeln. Das war zu hoch für das Marseiller Genie!
Die Bistros waren voll von Mias. Aufschneider, Sprücheklopfer, Schönlinge. Sie verbrachten ihren Tag mit Ricard an der Theke. Nebenbei kam es vor, dass sie ein bisschen arbeiteten.
Dieser hier fuhr bestimmt einen Renault 12, mit Scheinwerfern gespickt, dem Dédé-&-Valérie-Schriftzug auf dem Kühlergrill, Bommeln am Sitzpolster und Plüsch auf dem Lenkrad. Er blätterte um.
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