Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
wieder.«
Schwere, dunkle Wolken zogen auf. Es war noch nicht zehn, und die feuchte Hitze klebte auf der Haut.
Pérol trat draußen wieder zu mir.
»Spiel nicht den Idioten, Fabio.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin wegen einem Tipp verabredet. Eine Spur in Leilas Fall. Der dritte Mann.«
Er schüttelte den Kopf. Dann zeigte er mit dem Finger auf meinen Bauch. »Und das?«
»Eine Bagatelle, letzte Nacht. Wegen einem Mädchen. Mir fehlt das Training. Da hab ich mir einige eingefangen.« Ich lächelte. Das Lächeln, das den Frauen so gefiel. Der unwiderstehliche Verführer.
»Fabio, wir kennen uns inzwischen, du und ich. Hör auf mit dem Theater.« Er sah mich an, wartete auf eine Reaktion. Ich zeigte keine. »Du hast Ärger. Das weiß ich. Warum? Mir dämmert etwas. Aber du bist zu nichts verpflichtet. Behalt deine Geschichten für dich, wenn du willst. Und schieb sie dir in den Arsch. Das ist deine Sache. Wenn du drüber reden willst, bin ich da. Okay?«
Noch nie hatte er so eine lange Rede gehalten. Seine Ernsthaftigkeit rührte mich. Wenn ich in dieser Stadt noch auf jemanden zählen konnte, dann auf ihn, auf Pérol, von dem ich fast nichts wusste. Ich konnte ihn mir nicht als Familienvater vorstellen. Ich konnte mir nicht mal seine Frau vorstellen. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht. Auch nicht, ob er glücklich war. Wir waren zwei Fremde im gleichen Boot. Wir vertrauten uns. Wir respektierten uns. Und nur das zählte. Für ihn wie für mich. Warum war es nach vierzig so schwer, Freunde zu werden? Kommt es daher, dass wir keine Träume mehr haben, nur noch Bedauern?
»Genau. Ich will nicht darüber reden.«
Er drehte sich um. Ich erwischte ihn am Arm, bevor er einen Schritt machen konnte. »Wenn ichs mir recht überlege, warum kommst du Sonntagmittag nicht zu mir? Ich koch uns was.«
Wir sahen uns an. Ich ging zu meinem Auto. Die ersten Tropfen fielen. Ich sah ihn entschlossenen Schrittes ins Revier gehen. Mourrabed musste sich auf einiges gefasst machen. Ich setzte mich, legte eine Kassette von Ruben Blades ein und fuhr los.
Auf dem Rückweg fuhr ich durch das Zentrum von L'Estaque.
Der Ort war bemüht, seinen alten Charakter zu erhalten. Ein kleiner Hafen, ein Dorf. Nur wenige Minuten von Marseille entfernt. Die Bewohner sagten: Ich wohne in L'Estaque. Nicht in Marseille. Aber den kleinen Hafen umschloss heute ein Gürtel von Wohnsied - lungen, vollgepfercht mit aus dem Stadtzentrum verdrängten Immi - granten.
Es ist besser, zu sagen, was man empfindet. Natürlich. Ich war ein guter Zuhörer, aber ich hatte es nie verstanden, mich anzuvertrauen. Im letzten Augenblick flüchtete ich ins Schweigen. Eher bereit zu lügen, als zu sagen, was los war. Sicher hätte mein Leben anders verlaufen können. Ich hatte nicht gewagt, meinem Vater von meinen Dummheiten mit Manu und Ugo zu erzählen. In der Kolonialarmee hatte mir das schwer zu schaffen gemacht. Ich hatte nicht daraus gelernt. Die Frauen konnten mich nicht verstehen, und ich litt darunter, wenn sie gingen. Muriel, Carmen, Rosa. Wenn ich die Hand ausstreckte und endlich den Mund aufmachte, war es zu spät.
Es fehlte mir nicht an Mut. Ich hatte kein Vertrauen. Nicht genug. Nicht ausreichend, um mein Leben und meine Gefühle in irgend - jemandes Hand zu legen. Und ich rieb mich mit dem Versuch auf, alles selbst zu lösen. Der Stolz eines Verlierers. Und ich musste zugeben, dass ich im Leben immer verloren hatte. Manu und Ugo, um nur damit anzufangen.
Wie oft hatte ich mir gesagt, dass ich an jenem Abend nach dem misslungenen Einbruch nicht hätte abhauen dürfen. Ich hätte mit ihnen reden und ihnen sagen sollen, was ich schon seit Monaten auf dem Herzen hatte, dass diese Einbrüche zu nichts führten, dass wir Besseres zu tun hatten. Und das stimmte, wir hatten das Leben vor uns, die Welt zu entdecken. Das hätte uns Spaß gemacht: durch die Welt reisen. Davon war ich überzeugt. Vielleicht hätten wir uns gestritten? Vielleicht hätten sie ohne mich weitergemacht? Viel - leicht. Aber vielleicht wären sie heute auch hier. Am Leben.
Ich nahm die Küstenstraße, die am Hafen und am großen Damm entlangfü hrt. Meine bevorzugte Route nach Marseille hinein. Ein Blick auf die Hafenbecken. Bassin Mirabeau, Bassin de la Pinède, Bassin National, Bassin D'Arene. Dort lag die Zu k unft von Mar - seille. Das wollte ich jedenfalls glauben.
Die Stimme und der Rhythmus von Ruben Blades begannen in meinem Kopf zu wirken. Sie zerstreuten meine
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