Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Wütend. Er machte einen Auf - stand. Meine Mutter stieß dazu, in Tränen aufgelöst. Ich habe nie erfahren, ob mein Vater jemals eine Geliebte hatte. Er hat meine Mutter geliebt, da war ich sicher. Aber ihr Leben blieb mir ein Rätsel.
Sanchez wurde hippelig auf seinem Stuhl. Mein Schweigen beunruhigte ihn.
»Wie alt sind Ihre Kinder?«
»Die Jungs, vierzehn und sechzehn. Die Kleine ist zehn. Laure. Laure, nach meiner Mutter.« Er holte seine Brieftasche hervor, öffnete sie und hielt mir ein Familienfoto hin. Was ich tat, gefiel mir selber nicht. Aber ich wollte, dass er sich entspannte, damit er mir so viel wie möglich erzählte. Ich betrachtete seine Gören. Alle ihre Züge waren weich. In ihren scheuen Augen glomm nicht ein Funken Protest. Sie waren schon verbittert zur Welt gekommen. Sie würden nur die Ärmeren hassen. Und alle, die ihnen ihr Brot wegnahmen. Araber, Schwarze, Gelbe. Nie die Reichen. Es war vorauszusehen, was sie sein würden. Wenig. Die Jungs würden bestenfalls Taxi - fahrer werden, wie Papa. Und das Mädchen Friseurgehilfin. Oder Verkäuferin in einem Kaufhaus. Franzosen der Mittelschicht. Bei denen die Angst regierte.
»Hübsche Kinder«, heuchelte ich. »Und jetzt erzählen Sie mal. Wer hat Ihr Taxi gefahren?«
»Ich will es Ihnen erklären. Ich habe einen Freund, Toni, das heißt, einen Kumpel. Weil, nun, wir sind nicht eng befreundet, verstehen Sie. Er arbeitet mit dem Pagen vom Frantel zusammen. Charly. Sie nehmen reiche Trottel aus. Geschäftsleute. Höhere Angestellte. So was. Toni stellt ihnen das Taxi für einen Abend zur Verfügung. Er fährt sie in Schickimicki-Restaurants und feine Bars, wo es keinen Ärger gibt. Und zum Schluss zu den Huren. Nur Edelhuren, ver - steht sich! Solche mit einem kleinen Studio ...«
Ich bot ihm eine Zigarette an. Er fühlte sich wohler. Er schwitzte nicht mehr.
»Und an Spieltische, wo es um große Einsätze geht, nehme ich an?«
»Oh ja. Natürlich! Und was für welche! Eh, das ist wie bei den Huren. Wissen Sie, das mögen diese Heinis. Das Exotische. Araberinnen, Negerinnen und Vietnamesinnen an Land ziehen. Alle n ur vom Feinsten, natürlich. Manchmal mixen sie sich sogar einen Cocktail daraus.«
Er war nicht mehr zu bremsen. Jetzt fühlte er sich wichtig. Und seine Geschichten erregten ihn. Er sollte sich gelegentlich mit Huren bezahlen lassen.
»Also, Sie leihen ihm das Taxi.«
»Genau. Er bezahlt mich, und ich lungere rum. Ich spiele eine Partie Karten mit den Kumpels. Ich gehe zu Olympique Marseille, wenn sie spielen. Ich gebe an, was auf der Uhr steht. Alle haben was davon. Das ist ja logisch. Toni sahnt von allen ab: den reichen Gimpeln, Restaurants, Bars, Huren. Überall halt.«
»Kommt das oft vor?«
»Zwei-, dreimal im Monat.«
»Und Freitagabend.«
Er nickte. Wie eine schleimige Schnecke zog er sich wieder in sein Gehäuse zurück.
Das Thema behagte ihm nicht. Die Angst packte ihn wieder. Er wusste, dass er zu viel und doch noch nicht genug gesagt hatte.
»Ja. Er hatte mich darum gebeten.«
»Was ich nicht verstehe, Sanchez, ist, dass dein Kumpel keine reichen Trottel gefahren hat. Sondern zwei Mörder.«
Ich steckte mir noch eine Zigarette an, diesmal ohne ihm eine anzubieten. Ich stand auf. Ich fühlte, wie der Schmerz wiederkam. Ein Reißen. Mach schneller, sagte ich mir. Ich sah aus dem Fenster. Der Hafen, das Meer. Die Wolken lockerten sich auf. Der Horizont erstrahlte in einem unnatürlichen Licht. Seine Hurengeschichten brachten mich auf Marie-Lou. Auf die Schläge, die sie bekommen hatte. Auf ihren Loddel. Auf die Kunden, die sie empfing. War sie in einem dieser Ringe? Wurde sie den fetten Geldschweinen bei ihren Orgien zum Fraß vorgeworfen? »Mit oder ohne Kopfkissen?«, wurde bei der Reservierung in gewissen Hotels gefragt, die speziell für Seminare und Konferenzen eingerichtet waren.
Das Meer glitzerte silbern. Was wohl Marie-Lou in diesem Augenblick bei mir tat? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Ich konnte mir überhaupt keine Frau mehr bei mir zu Hause vorstellen.
Ein Segelboot fuhr aufs Meer hinaus. Ich wäre gern fischen gegangen. Um nicht mehr hier zu sein. Ich brauchte Ruhe. Ich hatte die Schnauze voll von wahnwitzigen Geschichten, wie ich sie mir seit heute Morgen anhören musste. Mourrabed. Sanchez und sein Kumpel, Toni. Immer die gleiche menschliche Schweinerei.
»Nun, Sanchez«, sagte ich und ging auf ihn zu. »Was hast du dazu zu sagen?«
Die vertrauliche Anrede ließ ihn zusammenzucken.
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