Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
den Jungs. Serge hatte keinen Glauben. Er hatte eine Höllenmoral. Eine Großstadtmoral, wie er sag te. Danach trafen wir uns regelmäßig im Moustiers, einem Café in L'Estaque, nahe am Strand. Wir klönten. Er stand mit den Sozialarbeitern in Verbindung. Er half mir zu verstehen. Wenn wir einen dieser Jungs wegen irgendeiner Scheißdummheit geschnappt hatten, rief ich ihn oft noch vor den Eltern aufs Revier.
Nach dem Donnerwetter meiner Vorgesetzten wurde Serge ver - setzt. Aber vielleicht war auch das ein abgekartetes Spiel? Serge schickte einen offenen Brief an die Zeitungen. »Aus dem Innern eines brodelnden Vulkans.« Ein Appell an die Bevölkerung, mehr Verständnis für die Jugend in den Vorstädten aufzubringen. »Auf dieser Glut, die der kleinste Lufthauch entfachen kann«, schloss er, »liefern sich Feuerwehr und Brandstifter von nun an ein Wettrennen.« Niemand veröffentlichte den Brief. Die Journalisten wollten es sich nicht mit der Polizei verderben, die sie unter der Hand mit Informationen fütterte.
Ich hatte Serge aus den Augen verloren. Ich hatte ihn ans Messer geliefert, weil ich mit ihm kooperiert hatte. Bullen, Streetworker, Sozialarbeiter — das sind verschiedene Jobs! Das darf nicht Hand in Hand gehen! »Wir sind keine Sozialarbeiter!«, hatte der große Boss gewettert. »Prophylaktische Intervention, Abschreckung durch Präsenz und direkten Kontakt, Kontaktbereichsbeamte, all das ist Kinderkram! Begreifen Sie endlich, Montale!« Ich hatte begriffen. Man zog es vor, die Glut anzufachen. Aus politischer Sicht zahlte sich das besser aus. Mein Chef hatte klein beigegeben. Der Dienst wanderte samt Waffen und Ausrüstung in die Versenkung des Polizeihauptquartiers. Ab sofort waren wir nur noch die Putzkolonne der nördlichen Viertel.
Mit Mourrabed hatte ich festen Boden unter meinen Füßen. Eine banale Schlägerei zwischen einem Ganoven und einem Schwulen, die niemanden hinter dem Ofen hervorlockte. Mein Bericht war noch nicht fertig, also wusste keiner im Haus von unserer Jagd gestern Abend. Die Drogen, die Waffen. Unser Kriegsschatz. Ich ahnte, wofür die Waffen waren. Eines der vielen Dienstrund - schreiben war mir wieder eingefallen. Es wies auf die Bildung bewaffneter Banden in den Vororten hin. Paris, Créteil, Rueil-Malmaison, Sartrouville, Vaulx-en-Velin ... Bei jedem Wutausbruch in den Vorstädten tauchten diese Kommandos auf, Halstuch bis über die Nase, umgekrempelte Lederjacken, Waffen. Ich wusste nicht mehr, wo, aber ein Bereitschaftspolizist war getötet worden. Die Waffe, ein Colt 11.45, war auch bei der Hinrichtung eines Gast - wirts in Grenoble benutzt worden.
Diese Notiz konnte meinen Kollegen nicht entgangen sein. Loubet nicht, und erst recht nicht Argue. Sobald ich unseren Fund bekannt gab, würden die anderen Brigaden auf der Bildfläche erscheinen und uns den Fall entziehen. Wie üblich. Ich hatte beschlossen, die - sen Augenblick so lange wie möglich hinauszuzögern. Den Zwischenfall im Keller zu verschweigen und vor allem nichts über Raoul Farge verlauten zu lassen. Als Einziger kannte ich seine Ver - bindungen zu Morvan und Toni.
Cerutti kam mit Kaffee. Ich kramte einen Zettel hervor, auf den Marie-Lou die Telefonnummer von Farge und seine wahrschein - liche Adresse, Chemin de Montolivet, gekritzelt hatte. Ich reichte ihn Cerutti.
»Finde heraus, ob Telefon und Adresse zusammenpassen. Und geh mit ein paar Jungs hin. Du müsstest Farge dort antreffen. Er gehört bestimmt nicht zu den Frühaufstehern.«
Sie sahen mich verdattert an. »Wo hast du das her?«, fragte Pérol.
»Von einem meiner Informanten. Ich will Farge hier haben, noch vor Mittag«, sagte ich zu Cerutti. »Überprüfe, ob er aktenkundig ist. Wenn wir seine Aussage haben, stellen wir ihn Mourrabed gegenüber. Pérol, du quetschst den Kerl über Drogen und Waffen aus. Vor allem die Waffen. Von wem er sie hat und das ganze Tralala. Sag ihm, dass wir Farge eingebuchtet haben. Setz jemanden auf die Waffen an. Ich will eine Aufstellung haben, ebenfalls bis Mittag. Ach ja, und eine Liste aller Knarren, mit denen in den letzten drei Monaten gemordet wurde.« Sie wirkten wie vor den Kopf geschlagen. »Das ist ein Wettrennen, Freunde. Bald haben wir das ganze Haus im Büro. Also los! Nicht, dass ich mich in eurer Gesellschaft langweile, aber der Herrgott erwartet mich!«
Ich war in Form.
Gottes Gerechtigkeit ist blind, das ist allgemein bekannt. Der Chef machte kurzen Prozess. Er brüllte: »Herein!« Das
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