Marsha Mellow
drängt meine Mutter.
»Ich ... ich ... ich wollte soeben sagen, dass ... Eigentlich kann das Lisa besser erklären.«
»Was?«, ruft meine Schwester aus.
»Dass du vielleicht mit Dan nach Hongkong gehst... und dass Dan den Triaden angehört.«
Gleich darauf droht Lisa an ihrem Dessert zu ersticken, während Dad die Hände vor die Augen schlägt und die Heilige Charlotte mich anstarrt und pikiert sagt: »Amy Bickerstaff, sag jetzt bitte auf der Stelle, dass das da in deinem Mund keine Zigarette ist.«
KAPITEL 6
George Michael geht an mir vorüber, wobei er kurz stehen bleibt, um den Blick auf mich zu senken. »So wunderschön«, flüstert er gedankenversunken.
Und er hat Recht - ich habe niemals besser ausgesehen als jetzt, da ich im offenen Sarg liege. Merke: Um Aufsehen zu erregen, kann man sämtliche Diäten, Botox und sonstige Schönheitsmittelchen getrost vergessen - man braucht nur einen Leichenbestatter aufzusuchen.
George wischt sich eine Träne aus dem Augenwinkel und geht weiter zu dem Sprechpult neben dem Altar. Er nimmt das Mikrofon in die Hand und sammelt seinen ganzen Mut, um all das durchzustehen, der schwierigste Auftritt in seiner gesamten Karriere. Die brechend volle Kathedrale, Tausende Menschen vor den gigantischen Leinwänden draußen und Millionen von Fernsehzuschauern weltweit warten gespannt auf das Lied, das er in mehreren schlaflosen Nächten eigens komponiert hat. Um seinem engen Freund Sir Elton, der verdientermaßen berühmt für seine einfühlsamen Texte ist, die sensibel die Trauer einer gesamten Nation widerspiegeln, nicht nachzustehen, hat George liebenswürdigerweise einen herzzerreißenden Tribut für mich verfasst. Nachdem er schließlich so weit ist, fängt er an, sich rhythmisch zu bewegen, als die Eröffnungstakte von ...
»Amy!«
Ich hebe den Kopf und entdecke eine schwer beladene Julie, die sich gerade einen Weg zu mir durch das überfüllte U-Bahn-Abteil bahnt.
»Ich habe dich schon mehrmals gerufen!«, sagt sie, als sie meinen Platz erreicht und die größte Reisetasche, die ich je gesehen habe, neben mir auf den Boden fallen lässt. »Träumst du etwa am helllichten Tag?«
Verflucht! Da habe ich einmal zur Abwechslung einen angenehmen Tagtraum, und sie platzt mitten hinein - und ausgerechnet in mein Lieblingslied Club Tropicana.
»Ich habe dich zuerst gar nicht erkannt. Warum hast du denn hier eine Sonnenbrille auf?«, will Julie wissen. »Oh, meine Augen sind entzündet«, schwindle ich. »Hartes Wochenende?« »Kann man so sagen.«
Der gestrige Tag war eine totale Katastrophe. Nachdem ich Lisa zuvorgekommen war, ihre aufregende Neuigkeit zu verkünden, brach die Hölle aus. Auch wenn mein Ablenkungsmanöver geglückt war, bezweifle ich dennoch ernsthaft, dass meine Schwester mir das so schnell verzeihen wird. Wenigstens habe ich etwas erreicht. Mum weiß jetzt, dass ich rauche. Ein Geheimnis weniger... von den weiß Gott wie vielen, die noch übrig sind. Während Mum und Lisa den Hausfrieden nachhaltig störten, bin ich geflohen - hätte ich das nicht getan, wäre meine Beerdigung höchstwahrscheinlich mehr als ein Tagtraum gewesen (obwohl ich mir- nicht sicher bin, ob George sich die Mühe machen würde, bei einer popligen Familienandacht im Golders-Green-Krematorium zu singen). Kaum war ich wieder zu Hause, zog ich den Telefonstecker heraus und dankte Gott, dass Ant nicht da war, sodass ich ihm mein klägliches Versagen nicht gestehen musste.
Seit heute Morgen traue ich mich gar nicht mehr aus der Deckung. Ich bin nämlich überall zu sehen. Beziehungsweise Marsha. Offenbar hat sich die gesamte Presse an die Mail drangehängt. Selbst die Times bringt mich unten auf ihrer Titelseite: BISCHOF ENTSETZT ÜBER DIEBSTAHL VON ALTARKERZEN. Der Rest schlachtet genüsslich die Umkleidekabinenaffäre aus. Ich traue mich zwar nicht, die Berichte zu lesen, aber ich kann doch unmöglich für all das Übel in der Welt verantwortlich sein - schließlich habe ich keine Drogen auf dem Schulhof vertickt. Am schlimmsten ist aber immer noch die Mail Sie haben ihren Knüller von Samstag noch getoppt mit der heutigen Schlagzeile »WER KENNT DIESE FRAU?« über einem gesichtslosen Phantombild. Die Frau hat zwar keinerlei Ähnlichkeit mit mir... aber dafür blöderweise die gleiche Frisur wie ich.
Als mir das Foto auf meinem Weg zur U-Bahn-Station ins Auge sprang, besorgte ich mir in der nächstbesten Drogerie eine billige Sonnenbrille. Ich komme mir vor wie Victoria Beckham,
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