Marter: Thriller (German Edition)
meinen Teil der Abmachung gehalten. Jede Woche ging ich zur Kirche und kniete dort nieder. Damit mir keiner mein kleines Mädchen aus dem Waisenhaus holen oder behaupten konnte, ich würde lügen. Und dann habe ich Droboslav kennengelernt. Einen Katholiken.« Anhand des Lächelns, mit dem sie nun gegen die Tränen ankämpfte, schloss Kat, dass Droboslav ihr Ehemann war und darüber hinaus auch ein guter Mann. Dem Himmel sei Dank.
»Und Jelena? Haben Sie sie danach noch getroffen?«
»Sie hat mir Nachrichten gebracht. Wie es Melina ging. Einige Fotos. Sie war wunderschön, mein kleines Mädchen. Ich konnte nicht hinfahren und sie besuchen, aber das war in Ordnung. Schrecklich, aber in Ordnung.«
»Bis Jelena wütend wurde.«
»Sie wollte Melina sagen, wer sie war. Woher sie kam. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht nicht. Melina wurde wütend. Als sie das Waisenhaus verließ, fing sie an, sich mit einem Mann zu treffen. Einem kazneno.«
»Einem Kriminellen?«
Sie nickte. »Man hörte immer wieder Geschichten von Mädchen, die verschwanden … Ich habe ihr gesagt, sie solle vorsichtig sein. Sie warf mir vor, ich hätte sie im Stich gelassen, ich hätte also kein Recht, ihr zu sagen, was sie zu tun habe. Als sie verschwunden war, bin ich zur Polizei. Die meinten nur, sie sei keine echte Kroatin. Ein gutes kroatisches Mädchen hätte solche Sachen nie getan, es müsse an ihrem schlechten bosnischen Blut liegen. Sie waren froh, dass sie weg war.«
»Was hat Jelena dazu gesagt?«
»Jelena hat gesagt, sie würde versuchen, sie zu finden. Sie meinte, unsere Geschichte würde dafür sorgen, dass die Leute verstehen, was hier in Kroatien wirklich geschehen ist. Aber ich glaube, sie hat sich getäuscht. Die Leute wollen einfach vergessen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr. »Bitte, ich möchte, dass Sie jetzt gehen.«
»Könnten wir wohl ein paar von Ihren Haaren mitnehmen? Für …«
»Ich weiß. DNA . Ich habe auch der Amerikanerin schon welche gegeben. Aber Sie können gern noch mehr mitnehmen, wenn Sie möchten. Sind ja nur Haare.«
56
Als sie Sorayas Haus verließen, fuhr ein kleiner Van vor. Ein Mann im Mechanikeroverall sprang heraus, sah sie misstrauisch an und eilte dann ins Haus. Durch das Fenster sah Kat, wie Soraya tränenüberströmt in seine Arme sank. Über ihrer Schulter begegnete er Kats Blick und funkelte sie wütend an.
»Zeit, dass wir verschwinden«, sagte sie zu Holly.
Ihr nächstes Ziel war das Lager Birds’ Nest selbst, um die Fotos zu schießen, die Roberta Carlito erbeten hatte. Die Straße wand sich durch Kastanienwälder hoch in die Berge. Abgesehen von einem Bauern, der sein winziges Feld noch von Hand bestellte, und ein paar Rauchwolken, die von fernen Feuern emporstiegen, schien die Landschaft gespenstisch menschenleer.
An einer der Biegungen legten sie eine kurze Rast ein und blickten zurück in Richtung Tal. Es waren keine Autos zu sehen, die ihnen in die Berge folgten.
Holly wirkte immer noch seltsam abwesend. Während sie so dahinfuhren, warf Kat ihr einen Seitenblick zu. »Du denkst, es war falsch, dass sie Melina von ihrer Herkunft erzählt haben, nicht wahr?«
»Ich schätze schon«, gab Holly zu. »Natürlich ist das eine verzwickte Situation, aber zu erfahren, dass der eigene Vater ein Vergewaltiger war und die eigene Mutter es zugelassen hat, dass man in einem anderen Glauben großgezogen wird … Das ist ganz schön hart, ganz gleich, wie alt man ist. Ich persönlich wäre da lieber ein unbeschriebenes Blatt.«
»Ich wäre ja einverstanden, wenn niemand sonst betroffen wäre. Aber wenn es bedeuten würde, dass man Findlater womöglich überführen kann, wenn man es Melina erzählt, dann würde ich sagen, sieht die Sache wieder anders aus.«
»Dann muss man abwägen, nicht wahr? Ist das Wohl eines Mädchens wichtiger oder weniger wichtig als Gerechtigkeit für etwas, das noch vor ihrer Geburt geschehen ist?«
»Ich denke, beides ist wichtig. Aber Beweise gegen Findlater und für die William-Baker-Zusammenkunft zu sammeln ist gerade mal die halbe Arbeit. Wenn wir das erledigt haben, müssen wir auch alles in unserer Macht Stehende tun, um Melina zu helfen.«
Soraya hatte ihnen erzählt, dass es sich bei dem Lager um einen ehemaligen Bauernhof handelte, der einzige oben auf dem Bergkamm. Dennoch brauchten sie gut eine halbe Stunde, in der sie die zahlreichen kleinen Wege im Wald erforschten, ehe sie einen alten Metallzaun entdeckten.
Sie stiegen aus dem Auto aus
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