Marter: Thriller (German Edition)
Mensch, der es nicht gerne sieht, wenn die eigenen Leute möglicherweise etwas – wie soll ich sagen? – Unangemessenes getan haben.«
Sie starrte ihn an. »Ist es das, was die Dokumente belegen?«
Er machte eine typisch italienische Handbewegung. Sie bedeutete so viel wie: vielleicht, vielleicht auch nicht. »Wie ich das sehe, handelt es sich um Aufzeichnungen und Notizen von Treffen, die zwischen den Jahren 1993 und 1995 im Camp Ederle stattfanden – keine minutiösen Protokolle von allem, was tatsächlich gesagt wurde, eher so was wie Programmabläufe für Gespräche. Doch warum wurden diese Treffen überhaupt im Camp Ederle abgehalten? Und warum waren die Unterlagen auf Serbokroatisch verfasst?«
»Weil jemand, der nur diese Sprache versteht, diese Aufzeichnungen benötigte.«
»Ganz genau. Für mich liegt daher nahe, dass wir es nur mit einem betagten kroatischen Militärmann zu tun haben können.«
»Dragan Korovik?«
»Möglich. An diesem Punkt aber werde ich etwas nervös. Wenn ausländische Militärbefehlshaber in meinem Sektionsbereich an Treffen auf US -Armeestützpunkten beteiligt waren, wie kommt es dann, dass ich davon nichts wusste? Das Protokoll nämlich sieht vor, dass die Agency bei jeglichem Kontakt zwischen unseren Leuten und Nichtalliierten automatisch informiert wird.«
»Was denken Sie also, was da vor sich ging?«
»Haben Sie schon einmal von einer Organisation namens Gladio gehört?«, konterte er ihre Frage mit einer Gegenfrage.
Sie schüttelte den Kopf. »Müsste ich die kennen?«
»Nun, das ist jedenfalls eine interessante Geschichte. Im Jahr 1990 trat der italienische Ministerpräsident, Giulio Andreotti, vor sein Parlament und legte ein recht bemerkenswertes Geständnis ab. Wie sich herausstellte, hatte die NATO seit Ende des Zweiten Weltkrieges und mit dem Wissen sämtlicher aufeinanderfolgender italienischer Ministerpräsidenten ihr eigenes verdecktes Militärnetzwerk in Italien betrieben. Nach außen hin waren dessen Mitglieder gewöhnliche italienische Staatsbürger, müssen Sie wissen – Ärzte, Anwälte, Politiker, Priester. Das Einzige, was diese Leute gemeinsam hatten, war die Tatsache, dass sie leidenschaftliche Kommunismuskritiker waren. Die NATO bildete sie aus, trainierte sie, versorgte sie mit Waffen und bezahlte sie – alles unter strenger Geheimhaltung, versteht sich. Es handelte sich um eine Guerillaarmee in ständiger Kampfbereitschaft. Und kein Mensch wusste irgendetwas davon.«
»Meine Güte«, erwiderte sie verblüfft. »Aber warum?«
»Nach dem Krieg, als die Russen den Ostblock immer fester in die Zange nahmen, da dachte die NATO , sie hätten auch ein Auge auf Italien geworfen. Und die demokratischen Kommunisten fanden bei den italienischen Meinungsumfragen erstaunlich viel Zuspruch. Ursprünglich war die Idee dahinter, dass im Falle einer russischen Invasion oder falls die Kommunisten an die Macht kämen, Gladio sich erheben würde, bereit, offiziell Widerstand zu leisten.«
Er machte eine kurze Pause, um sich einen Crostino zu schnappen.
»Doch das war noch nicht alles, was Andreotti zu beichten hatte. Wie es aussieht, begannen einige dieser ›Gladiatoren‹ im Laufe der Jahre, als sich abzeichnete, dass die Russen hinter dem Eisernen Vorhang bleiben würden, ihr Fachwissen – sowie die von der NATO zur Verfügung gestellten Granaten – zu nutzen, um auf die heimische Politik Einfluss zu nehmen. Über ein Dutzend Mordfälle, Bombenanschläge und andere Gräueltaten konnte man Gladio anlasten. Bis hin zu der Ermordung eines weiteren Ministerpräsidenten, wie es scheint, Aldo Moro, den man entführte, folterte und dann wenige Tage, bevor er einen Koalitionsvertrag mit den Kommunisten unterzeichnen sollte, umbrachte.«
»Die berühmten anni di piombo «, sagte sie.
»Exakt.«
Jeder in Italien kannte diesen Begriff, der für das politische Chaos der Siebziger- und Achtzigerjahre stand, eine Zeit, die als »bleierne Jahre« bezeichnet wurde nach den vielen Kugeln, die abgefeuert wurden, nachdem die Polizei beinahe die Kontrolle auf den Straßen verlor und nur noch die mutigsten Anwälte es wagten, bei Strafprozessen mitzuwirken.
»Man bezeichnete dies als Strategie der Spannung«, fuhr Gilroy fort. »Grundsätzlich ging es darum, Vergeltungsschläge zu provozieren sowie Gegner auszuschalten. Doch der eigentliche Punkt ist der, dass Gladio dem Verantwortungsbereich der NATO unterstand. Die CIA wusste nichts von alledem. Zumindest nicht
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