Marter: Thriller (German Edition)
Nachrichten – anonyme Denunziationen gegen venezianische Mitbürger, Informationen, Klatsch, was auch immer – draußen in das Maul des Löwen, von wo aus die Botschaften über ein Rohr in diesen unterirdischen Raum gelangten. Früher arbeiteten hier ein Dutzend Spione Tag und Nacht bei Kerzenschein, um die Nachrichten zu analysieren und zu sortieren. Auf diese Weise legte man zu jedem einzelnen Bürger eine Geheimakte an.
»So hielten die zehn wichtigsten Familien Venedigs den sogenannten Frieden in ihrer sogenannten Republik aufrecht«, erklärte Daniele Barbo hinter ihr in lakonischem Tonfall. Er streckte die Hand an ihr vorbei zu einem der Verteilerfächer und zog daran: Er hielt ein verrottetes Stück Holz in der Hand. »Jetzt wird es nicht mal mehr zehn Jahre halten, geschweige denn, die nächsten dreihundert.«
»Liegt wohl an der Feuchtigkeit, verursacht durch das acqua alta , nehme ich an?«
»Nicht ganz.« Wieder zögerte er, ehe er unwirsch sagte: »Kommen Sie, wenn es Sie so brennend interessiert. Ich zeige es Ihnen.« Er trat auf eine weitere Tür zu und zog sie auf. Das Eichenholz bebte und schleifte protestierend über den Steinfußboden, da sich das Holz verzogen hatte.
Kalte, feuchte Luft schlug ihr entgegen – Kellerluft. Absolute Finsternis und das schwappende Geräusch einer Meereshöhle. Er betätigte einen Schalter und trat von der Tür zurück. Steinerne Stufen führten nach unten in einen weiteren, noch größeren Raum. Robuste Säulen reichten hoch bis unter die Decke – sie stützten all den Marmor darüber, nahm sie an. Doch wo der Fußboden hätte sein müssen, war nichts als braunes Wasser, das unruhig an den Rand schwappte.
»Zwei Mal am Tag steht hier alles unter Wasser. Obwohl im Sommer in der Regel alles trocken ist.« Er deutete auf eine Wand, wo verschiedene Daten mit Kohle festgehalten waren, als hätte jemand das Wachstum eines Kindes aufzeichnen wollen. Hochwassermarkierungen. »Die da gehen zurück bis ins Jahr 1776. Einige der älteren wurden längst weggespült. Als Ruskin davon schrieb, Venedig würde ins Meer schmelzen wie ein Zuckerwürfel in einer Tasse Tee, da sprach er von der Ca’ Barbo – sein Name findet sich im Gästebuch des Hauses.«
Kat konnte das nächstgelegene Regalbrett gerade so erreichen, ohne ins Wasser steigen zu müssen. Sie zog einen braunen Band herunter, dessen Seiten, so sah sie jetzt, handbeschrieben waren. Die Tinte war von der Feuchtigkeit und dem Schimmel ganz verlaufen. »Sollte man die nicht besser von hier wegbringen?«
»Wen interessieren die denn heute noch? Sind ja doch bloß längst vergessene Geheimnisse. Sollen wir nach oben gehen? Sie verschwenden Ihre dreißig Minuten.«
Er führte sie die Haupttreppe hoch. Der Unterschied zu unten hätte nicht größer sein können. Hier bestanden Böden und Wände aus feinstem Marmor, die Räume wurden erhellt durch Bogenfenster, die so detailreich mit Schnitzereien verziert waren, dass sie wie aus Zuckerguss wirkten. Allerdings konnte sie nicht vergessen, dass all das gefährlich über den Kanälen mit dem ständig heranbrandenden Meerwasser thronte, diese verrottenden, nicht länger genutzten Spionagebüros. Doch so war Venedig nun mal: Schönheit, die auf Schmutz gebaut war; brackiges Wasser, über dem der Duft eines wunderbaren Parfums lag; konkurrierende Handelshäuser drängten sich dicht an dicht mit der größten Pracht der italienischen Zivilisation.
»Was für ein fantastisches Haus«, sagte sie im Plauderton. »Sie müssen sich sehr glücklich schätzen, hier wohnen zu dürfen.«
Er machte keine Anstalten, darauf zu antworten.
Nun führte er sie durch den portego , den saalartigen Hauptflur im Obergeschoss, in einen Salon. Geschnitzte Vitrinen und feine Gläser, wie man sie in einem Raum wie diesem erwartet hätte, glänzten lediglich durch ihre Abwesenheit. Das Mobiliar war billig und funktional, außerdem stand da ein riesiges Whiteboard voller mathematischer Gleichungen.
»Nun«, sagte er, während er sich setzte. »Was wollten Sie mich fragen?«
»Ich bräuchte Zugriff auf eine Reihe von Gesprächen, die, so vermute ich, auf Ihrer Website geführt wurden.« Sie nahm ihm gegenüber Platz und brachte die Liste aus dem Hotel zum Vorschein. »Die Person, die sich dazu eingeloggt hat, wurde kurz darauf getötet. Wir wollen wissen, mit wem sie auf Carnivia in Kontakt war und warum.«
Er warf einen flüchtigen Blick darauf. »Ist das eine der Frauen, von denen die Zeitung
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