Marter: Thriller (German Edition)
eintrafen. Der Seiteneingang zur Straße hin war dagegen nahezu anonym – aus altem, verwittertem Eichenholz gefertigt, aber so unauffällig, dass man dahinter mitnichten eines der größten Häuser Venedigs vermutet hätte. Nur der geschnitzte Löwenkopf in einer nahen Wand, dessen Maul ein dunkles Loch bildete, in das Kats Faust gepasst hätte, ließ vermuten, was für eine Sorte Behausung dies hier war.
Sie drückte auf die Messingklingel, und während sie wartete, betrachtete sie den Löwenkopf etwas eingehender. In der ganzen Stadt, so wusste sie, gab es höchstens noch ein halbes Dutzend von diesen bocche di leone , Relikte aus einer Zeit, als die größte Seefahrernation es für nötig befunden hatte, ihre eigenen Bürger auszuspionieren. Sie beugte sich nach unten und hielt ihr Ohr an das Maul. Aus dem Inneren des düsteren Schlunds der Bestie war ein entferntes Wispern zu hören; ein Echo wie im Inneren einer Höhle oder das Wüten des fernen Ozeans im Inneren einer Muschel.
»Was wünschen Sie?«
Sie fuhr hoch. An der jetzt geöffneten Tür stand ein Mann um die vierzig. Er war lässig gekleidet in T-Shirt und Chinos, trotz des eisigen Nordostwindes, der über den schmalen rio heranfegte. Seine Augen waren hell und durchdringend, und das Haar reichte ihm bis über den Nacken und verbarg seine Ohren. Doch war es seine Nase, die den Blick unweigerlich fesselte. Wo eigentlich die Nasenlöcher hätten sein sollen, sah man nichts als einen Stumpen vernarbten Gewebes, etwas, das aussah wie ein zweiter Bauchnabel.
»Capitano Kat Tapo von den Carabinieri.« Sie wollte nach ihrer Brieftasche greifen, doch er hielt sie davon ab.
»Sie brauchen mir keinen Ausweis zu zeigen, Capitano. Mir ist sowieso gleich, ob Sie die sind, die Sie zu sein vorgeben.«
»Ich habe Ihnen bereits einige E-Mails geschickt …«, setzte sie an.
»Ich weiß.«
»Aber Sie haben nicht geantwortet.«
»Weil ich Sie nicht treffen wollte.«
»Trotzdem müsste ich eine halbe Stunde Ihrer Zeit in Anspruch nehmen«, sagte sie in festem Ton. Sie erinnerte sich, auf seinem Wikipedia-Profil gelesen zu haben, dass er an einer Soziophobie und einer Autismus-Spektrum-Störung litt, daher beschloss sie, es auf die harte Tour zu versuchen. »Wir können auch den offiziellen Weg gehen, wenn Ihnen das lieber ist. Dann besorge ich einen Durchsuchungsbeschluss, und Sie können zu uns ins Hauptquartier kommen. Das wird allerdings viel länger dauern, und möglicherweise müssten Sie auch noch eine Weile in der Gemeinschaftszelle verbringen. Um diese Uhrzeit ergeben sich bei uns schnell mal Engpässe.«
Ein angewiderter Ausdruck flackerte über Daniele Barbos Gesicht. »Nun gut«, sagte er schließlich. »Eine halbe Stunde. Keine Sekunde länger. Ich bin sehr beschäftigt.«
Wie ihr auffiel, hatte er einen seltsamen Akzent – nicht unbedingt amerikanisch, aber ihm fehlte der übliche Singsang der Venezianer. Möglicherweise hatte es etwas damit zu tun, dass er zum Teil taub war. »Vielen Dank«, entgegnete sie und schwächte ihre Beharrlichkeit durch ein Lächeln ab.
Barbo grunzte nur kurz.
Die Eingangshalle, in die er sie führte, war dunkel und kahl. Das überraschte sie nicht – in der Regel dienten die Erdgeschosse von palazzi wie diesem nur dem Handelsverkehr und der Lagerung; die prächtigen Empfangsräume befanden sich im piano nobile , das darüber lag. Es hing ein Anflug von Feuchtigkeit in der Luft. »Dürfte ich wohl in das Innere der bocca sehen?«, fragte sie.
»Weshalb?«
»Aus reiner Neugierde, nichts weiter. Man bekommt nicht häufig die Gelegenheit dazu.«
Er schien kurz davor, Nein zu sagen, doch dann zuckte er mit den Schultern. »Ist Ihre halbe Stunde. Solange Sie am Ende wieder verschwinden, können Sie die Zeit nutzen, wie es Ihnen beliebt.« Er führte sie zu einer Tür am Ende des Flurs. »Hier unten«, erklärte er mit einer Geste.
Ich flirte nicht , redete sie sich selbst ein. Ich bemühe mich nur um ein gutes Verhältnis zu einem schwierigen Gesprächspartner .
Sie betrat einen niedrigen Raum, dessen Wände von in Leder gebundenen Büchern gesäumt waren. Entlang einer Wand zog sich ein Tresen. Das einzige Licht im Zimmer drang durch Gitterstäbe, die in die Wände eingelassen waren, ein kleines Stück oberhalb des Tresens, jedoch auf Knöchelhöhe für diejenigen, die ebenerdig über die Bürgersteige spazierten. Alles glitzerte vor Feuchtigkeit.
Sie wusste in etwa, wie es funktionierte. Die Leute steckten
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