Martha Argerich
zähneknirschend zugesagt – trotz ihrer fünfundzwanzig Jahre zurückliegenden ersten und einzigen Unterrichts-
erfahrung, die im italienischen Siena stattgefunden und sich zu einem wahren Fiasko entwickelt hatte. Sie war mit ihrer zwei Monate alten Tochter Annie, die keine Nacht durchschlief, nach Italien gefahren und sollte auf einen Haufen wild zusammengewürfelter Jungpianisten stoßen. Sie hatte sich geweigert, eine Vorauswahl zu treffen, und sämtliche Bewerber angenommen, in der naiven Vorstellung, eine basisdemokratische Unterrichtsstunde und kein Eliteseminar abzuhalten. Doch weil ihre »Schüler« auf diese Art Experiment nicht vorbereitet waren, musste sie sich schon bald ihr Scheitern eingestehen. Als einer der Pianisten ihr auch noch anvertraute, ihm würde beim Schnellspielen immer so schwindelig werden, konnte sie sich nur noch retten, indem sie die Flucht ergriff.
Trotz dieser misslichen Erfahrung war Martha nun bereit, sich erneut in das Abenteuer Unterricht zu stürzen, unter der Bedingung allerdings, dass Jura, der Sohn ihres Freundes Vitaly Margulis, als ihr Assistent fungierte. Doch Japan hin oder her: Vier Tage vor dem schicksalhaften Datum hatte die Pianistin ihre Meinung geändert. »Ich weiß nicht, ich will nicht«, stöhnte sie. An besagtem Tag traf sie mit großer Verspätung und in denkbar schlechter Verfassung am verabredeten Ort ein. Bevor sie in den Ring stieg, bat sie um eine Cola, um sich Mut anzutrinken, dann um Kaffee auf Kaffee. Ihre Begleiter redeten über alles Mögliche, nur um sie abzulenken. Als sie endlich den Unterrichtssaal betrat, waren sämtliche Beteiligte vor Lampenfieber fast gestorben, sie allen voran. Pult und Stuhl auf der Bühne ignorierend, setzte sie sich in die vorletzte Reihe des überfüllten Raumes. Keine Chance, sie von dort wegzubekommen. Also stellte Jura Margulis den ersten Teilnehmer vor, der zu spielen begann.
»Was meinst du, Martha?«
»Hm, ich weiß nicht, keine Ahnung, machen Sie einfach weiter, ja, das ist sehr gut, ja, ja …«
Niemand konnte ihr eine weitere Äußerung entlocken. Am zweiten Tag setzte sie sich mitten unters Publikum, was bereits eine beträchtliche Verbesserung darstellte. Die Veranstalter, die ihr ganzes diplomatisches Geschick bemühten, vermochten es schließlich, sie in die erste Reihe umzuquartieren. Eine junge Rumänin erging sich in Schumanns Fantasie .
»Ich weiß nicht, was ich Ihnen sagen soll. Wenn ich das Stück spielen müsste, würde ich mir wünschen, es genauso gut zu machen wie Sie.«
Der nächste Kandidat hatte ein romantisches Konzert gewählt. Als er fertig war, setzte sie sich an das zweite Klavier und murmelte: »Nicht schlecht, aber bei dieser Passage könnte man sich vielleicht noch etwas anderes vorstellen …« Anschließend übernahm sie die Orchesterpartie des Werkes, und die Interpretation des Solisten gewann sogleich an Tiefe. Auf einmal war es Musik.
Der soziale Aspekt ist in Beppu sehr wichtig. So wurde extra eine Stiftung gegründet, um Waisenkindern den Besuch klassischer Konzerte zu ermöglichen. Oft geht der Gewinn, der bei den Veranstaltungen erzielt wird, an karitative Vereinigungen in Tokio und Kobe. In einem Jahr wurden auch 10 000 Dollar nach Argentinien geschickt, um notleidenden Kindern zu helfen, deren Familien Opfer der staatlichen Finanzkrise geworden waren.
Im November 2000 begab sich Martha in eine Volksschule in Higashiyama, um vor einem Schulorchester mit Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren aufzutreten. Sie spielte Scarlattis Klaviersonate d-Moll K 141 (eine ihrer Lieblingszugaben) und sagte: »Beim nächsten Mal spiele ich zusammen mit euch.« Im Jahr darauf hielt sie Wort, mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 1 . Ihrem japanischen Agenten Shoji Sato zufolge hält sich Martha für eine Amateurmusikerin und nicht für etwas Besonderes. Er erklärt, in der Zusammenarbeit mit ihr gelernt zu haben, dass es wichtigere Dinge als die Karriere gibt. »Sie ist meine Lehrerin fürs Leben geworden.«
2005 nahm Martha an der Japantournee des Simón-Bolívar-Jugendorchesters teil, unter Leitung des charismatischen Jungdirigenten Gustavo Dudamel. Sie gab eine Pressekonferenz im Hotel Imperial in Tokio, um »El Sistema« zu promoten, einen vorwiegend staatlich finanzierten Zusammenschluss von Kinder- und Jugendorchestern aus Venezuela, der Mitte der Siebzigerjahre von dem Musiker und Ökonomen José Antonio Abreu gegründet worden war. Der heute über Siebzigjährige hatte im
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