Martha Argerich
Subtilität und Finesse. Abgestoßen von den bourgeoisen Konventionen der westlichen Welt, gliedert sie sich bereitwillig in den althergebrachten Gesetzeskodex des Inselstaats ein. Die japanische Mentalität versetzt sie nachgerade in Entzücken. Sie findet die Japaner intelligent und feinsinnig, bewundert überdies ihre »indirekte« Art, sich auszudrücken. Man muss ihre Sätze meist wie einen Geheimcode entschlüsseln und nach der wahren Bedeutung hinter den Worten suchen. Martha ist froh und mit Sicherheit auch stolz darauf, dass sie selbst damit keine Schwierigkeiten hat. Das Verhalten eines Japaners zu verstehen kann für einen weniger sensiblen Besucher des Landes oder für einen Reisenden unter Zeitdruck zu einem unlösbaren Ärgernis werden, aber für die rege Fantasie einer Künstlerin, die gewohnt ist, selbst die tiefsten Geheimnisse einer Partitur zu enträtseln, wird das zum Hochgenuss. Alles an dieser Kultur vermag ihre Begeisterung auszulösen. Etwa die Art, wie unter Geschäftsleuten Einigung erzielt wird: Auch wenn sie nicht handelseinig geworden sind, unterschreiben sie trotzdem den Vertrag, jedoch auf eine ganz bestimmte Weise. Die andere Partei weiß dann, dass der Vertrag letztlich nicht gültig ist, also verhandelt man so lange weiter, bis am Ende alle zufrieden sind und ihre richtige Unterschrift unter das Papier setzen. Ein Beobachter von außen hat das Gefühl, es mit Verrückten zu tun zu haben. Das liegt daran, dass in Japan niemals »Nein« gesagt wird. Martha erblickt darin eine gewisse Ähnlichkeit mit Belgien, dem Land des Magritte’schen »Ceci n’est pas une pipe«, wo ein »Ja« auch schon mal ein »Nein« bedeuten kann, ohne dass sich irgend-
jemand darüber aufregen würde. Der amerikanische Pianist
Nicholas Angelich besitzt dieses Faible für das Indirekte ebenfalls. Wenn er »Ich weiß nicht recht« sagt, haben seine Freunde inzwischen begriffen, dass sie daraus seinen Widerwillen zu vernehmen haben, den er aber nicht ohne inneren Zwiespalt einfach so formulieren könnte. Der Dirigent Sergiu Celibidache sagte einmal, eine Orchesterprobe sei nur dazu da, zweihundert verschiedenen Varianten eines »Nein« zu begegnen, um am Tag des Konzerts ein einstimmiges »Ja« zu hören.
In Japan hat Martha die Gewissheit, trotz ihrer Widersprüchlichkeiten, Launen und Inkonsequenzen geliebt zu werden. Sie, die mittlerweile so empfindlich ist und so viel Scheu davor hat, von anderen bedrängt zu werden, schätzt das distanzierte und reservierte Verhalten der Japaner. »Hier lässt man mich in Ruhe«, übersetzt sie dieses Gefühl. Sie erhält somit die Freiheit, selbst auf andere zugehen und sich vor jeder Form von Vereinnahmung schützen zu können. Sie ist gerührt, wenn sie sieht, wie sich die Fans im Moment des Abschieds um ihren Wagen scharen, winken und ein hohes, spitzes Kichern ausstoßen, um dann, wenn der Konvoi sich in Bewegung setzt, hinter vorgehaltener Hand in Tränen auszubrechen.
Seit Jahren nunmehr sind die beiden beliebtesten Pianisten in Japan Maurizio Pollini und Martha Argerich. Einerseits hängt dies mit ihren Siegen beim Chopin-Wettbewerb zusammen, was den Italiener und die Argentinierin im Land der Samurai in den Status von Halbgöttern versetzt hat. Martha glaubt, dass die japanischen Musikliebhaber sie als jemanden betrachten, der vollkommen frei ist und somit absolut fremdartig für sie, doch dass ihre leicht asiatisch wirkenden Gesichtszüge ihnen zugleich auf verwirrende Weise Nähe suggerieren. Ihr so wenig feminines Spiel (im traditionellen Sinne des Begriffes) steht in
keiner Weise im Widerspruch zu der Faszination, die sie in Japan auslöst. Zweifellos sind die Japaner ihr zutiefst dankbar, dass sie so oft zu ihnen kommt. Und das, obwohl ihre erste Tournee zum Zeitpunkt der Trennung von Charles Dutoit mit einem Desaster endete: Nach dem gemeinsamen Auftritt in Osaka hatte sie das erstbeste Flugzeug zurück nach Europa genommen, ohne sich um den weiteren Verlauf der Konzertreihe zu kümmern. Die Veranstalter hatten ihr sogleich ein Drohtelegramm nach Alaska hinterhergeschickt, wo sie zwischengelandet war, um sie zur Umkehr zu zwingen, aber das machte bei der Pianistin damals nur wenig Eindruck. Dass die Absage eines Auftritts in Japan einer Katastrophe gleichkommt, liegt nicht zuletzt an der großen räumlichen Distanz zum Westen, was es ungleich schwieriger macht, einen Ersatz auf gleichem Niveau zu finden. In solchen Fällen kennen die japanischen
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