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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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Kempff bis Gieseking. Doch das, was wir nun erleben durften, geht über alles Vorstellbare hinaus und ist kaum mehr in Worten auszudrücken: Martha Argerichs Talent ist geradezu übernatürlich!« Und weiter führte er aus, dass es kaum zu fassen sei, eine solche Reife, eine solch leuchtende Schönheit und einen solch immateriellen Klang in Mozarts Sonate D-Dur KV 576 zu vernehmen. »Im Adagio gelingt es der siebzehnjährigen Künstlerin, jede einzelne Schmerznuance hörbar zu machen, jene Vibrationen, die bei Mozart so schwer herauszumodellieren sind.« Die Superlative steigerten sich von Artikel zu Artikel. »Eine atemberaubende Farbpalette« hieß es anlässlich von Schumanns Carnaval , »ein unendliches Farbspektrum« bei Ravels Gaspard de la Nuit , und Prokofjews Toccata wurde gar als »Apotheose« bezeichnet. Niemand konnte sich dieser elektrisierenden Energie entziehen. Die Kritiker waren auf das Temperament und die Vitalität der argentinischen »Bombe« durchaus vorbereitet, doch mit einer solchen stilistischen Perfektion, die für eine Künstlerin in diesem Alter vollkommen unüblich war, noch dazu in allen Stücken ihres Repertoires, hatten sie nicht gerechnet.
    Was selbst die anspruchsvollsten Zuhörer noch frappierte, war das nur extrem selten in einer Künstlerpersönlichkeit vereinte Aufeinandertreffen scheinbar widersprüchlicher Qualitäten: eine große physische Kraft kombiniert mit einem so feinen Anschlag, dass selbst die kleinsten Nuancen ans Licht traten, eine Empfindsamkeit bis in die Fingerspitzen und eine Technik, die sich auf
allerhöchstem Niveau befand. Man begeisterte sich für ihr »kindliches Lächeln«, ihr »unbewegtes Gesicht«, und einer der Kritiker beendete seinen Artikel gar mit den Worten: »Ich habe keine Frau erlebt, die Klavier spielt, sondern eine Künstlerin, die sich aus ihrem Innersten heraus für die Musik verzehrt.«
    Was den geneigten Leser womöglich in Erstaunen versetzt: Martha besitzt kein absolutes Gehör, also die Fähigkeit, die gehörten Noten auch zu benennen. Manchmal hat sie nicht einmal die richtige Tonart präsent. »Sie haben das Prélude G-Dur so wunderbar gespielt!«, beglückwünschte sie ein Zuhörer einmal nach einem Konzert. Die Pianistin stützte den Kopf in die Hände und grübelte minutenlang, um welches Prélude G-Dur es sich denn da gehandelt haben mochte.
    Ihre Konzerte hatten oft unterschiedliche Programme. Später konnte man lesen, dass sie »mit einem tiefen Verständnis für die kompositorischen Formen« die Waldsteinsonate von Beethoven, die Variationen f-Moll von Haydn, die Petite Suite von Debussy, die Ballade Nr. 1 und das Nocturne op. 48 Nr. 1 von Chopin gespielt habe sowie als Zugabe die Étude op. 25 Nr. 1 von Chopin,
eines von Schuberts Impromptus und La Leggierezza von Liszt. In einem anderen Bericht bemerkte der Journalist ihr nervöses, schüchternes kleines Lächeln beim brausenden Applaus nach jedem Stück. »Sokrates hätte von einem göttlichen Dämon gesprochen«, schrieb er überschwänglich.
    Die Kritiker wussten natürlich nicht, dass Martha stets auf den letzten Drücker arbeitete und nicht wirklich Zeit hatte, ihre Programme zu üben. Als sie 1959 zum ersten Mal in München das Klavierkonzert D-Dur von Haydn gab (mit dem berühmten »Rondo all’Ungarese«), wäre man im Leben nicht auf die Idee gekommen, dass sie das Stück erst am Vorabend für sich entdeckt und es über Nacht eingeübt hatte. Das Ergebnis hätte eher vermuten lassen, sie hätte bereits ihre ganze Jugend mit der Partitur verbracht.
    »Das deutsche Publikum war großartig«, erinnert sich Martha heute. »Es gab kein Starsystem.« Am Ende eines Konzert kamen die Amateurpianisten auf sie zu und fragten einfach: »Wie machen Sie das?« Es war eine völlig andere Zeit.
    Das rasche Aufeinanderfolgen der Recitals hatte ihre Kräfte erschöpft. Das Publikum trug sie auf Händen, aber sie hatte das Gefühl, nur noch eine Maschine zu sein, die Noten hervorbrachte. »Marie« spielte wie eine Göttin, aber »Martha« wollte leben. Im September 1960 gab sie ein letztes Konzert in München und sagte dann die restlichen Termine der geplanten Tournee ab. Sie wollte endlich Bücher lesen, ins Kino gehen, andere Leute treffen, aus dem strengen Tagesablauf ausbrechen. Ein Künstler, der so gefragt ist, kann keine normale Existenz führen. Sie suchte verzweifelt nach einer anderen Form, Musik leben zu können, ohne die Sklavin ihres Terminkalenders oder ein Arbeitstier

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