Martha Argerich
vermag die Künstlerin selbst die feinsten Arabesken von Chopins Klavierkonzert Nr. 1 mit kristalliner Eleganz zu weben. Gewiss wird sich mit den Jahren der stolze und natürliche, manchmal direkt unter die Haut gehende Ausdruck noch entwickeln, ebenso wie sich manch scharfe Kante noch abschleifen wird. Aber die Spontaneität ist jetzt schon zu bewundern, und der authentische Charakter der Darbietung versetzt nicht minder in Entzücken.« Das Konzert war ein riesiger Erfolg, der sich bald in den Kulturhauptstädten der Welt herumsprach.
Damals kündigte das Lokalmagazin einer italienischen Kleinstadt ihr Kommen mit den Worten an: »Wir werden eine relativ unbekannte Pianistin zu hören bekommen, die jedoch großes Talent besitzt.« Als ihr dieser Satz vorgelesen wurde, bemerkte die Pianistin trocken: »Besser so als umgekehrt!«
Hamburg
Anfänge in Europa
Ein paar Monate nach ihrem Sieg beim Genfer Wettbewerb von 1957 debütierte Martha in Hamburg und errang den Preis des Podiums der Jungen. Ein enormer Erfolg! Als Geburtsstadt von Brahms und Mendelssohn verfügte Hamburg über eine gewachsene Musiktradition und war keineswegs für jeden zu begeistern. Die Produktionsleiterin der Deutschen Grammophon, eine Ungarin namens Elsa Schiller, war zufällig im Saal anwesend. Im Anschluss an das Konzert trat sie auf die junge Pianistin zu und bot ihr einen Exklusivvertrag an: Sie würde in den folgenden Wochen ein Programm ihrer Wahl einspielen können und dafür ein beträchtliches Honorar kassieren. Das Angebot war absolut außergewöhnlich und hatte nichts von der üblichen Vorsicht und Abwartehaltung der Plattenfirma, die sich auf ihren illustren Katalog mit den ausgesuchten, sich auf dem Gipfel ihres Ruhmes befindlichen Künstlern einiges einbildete. »Sehr interessant«, erwiderte Martha Argerich, »aber ich muss erst darüber nachdenken.« Wenige Tage später wurde sie erneut von ein paar rang-
hohen Mitarbeitern des berühmten Labels mit dem gelben Etikett kontaktiert. Doch Martha beharrte auf ihrer Position. Sie fühlte sich noch nicht so weit und wollte abwarten, bis ihre Kunst den nach ihrer Ansicht nötigen Reifegrad erhalten hatte. Ihre Umgebung brachte kaum Verständnis für ihre Entscheidung auf, handelte es sich doch um ein wirklich einzigartiges Angebot, durch das sie sich weltweit einen Namen würde machen können. Aber für Martha war eine Plattenaufnahme Ausdruck einer erfolgreichen Laufbahn und keine Startrampe in eine erst beginnende Karriere. Sie wollte nicht das Risiko eingehen, später eine womöglich zu leichtfertig getroffene Entscheidung zu bereuen.
Zur selben Zeit schlug man ihr vor, das Klavierkonzert Nr. 2 von Brahms zu spielen, das sie im Alter von vierzehn Jahren zusammen mit Friedrich Gulda einstudiert hatte. »Dazu muss ich mir erst einen Bart wachsen lassen«, lautete ihre Entgegnung. Während der nächsten zwei Jahre wurde die Pianistin in zahlreiche deutsche Städte eingeladen. »Wenn ich mir eine Karte von Deutschland anschaue«, sagt sie heute, »wird mir bewusst, dass ich fast überall gewesen bin.« Diese Anhäufung von Konzertterminen war gewiss verfrüht. Ihre ganze Kindheit lang hatte Martha sehr abgeschottet von der öffentlichen Aufmerksamkeit gelebt, und ihre Eltern hatten ihr Talent nicht ausgenutzt. Selbst während ihrer Studienzeit mit Gulda hatte sie keine Konzerte gegeben. Und plötzlich, auf einen Schlag, setzte sich die Maschinerie in Gang. Ihr Wiener Debüt fand am 28. Februar 1958 im großen Saal des Musikvereins statt. Im April desselben Jahres wurde sie erneut von der österreichischen Hauptstadt eingeladen, um das Klavierkonzert Nr. 1 von Chopin mit der Ungarischen Nationalphilharmonie aufzuführen. 1959 absolvierte sie große Tourneen in Deutschland und Italien. Kiel, Baden-Baden, Frankfurt, Berlin, Turin, Parma, Palermo, Neapel … Mit höchstens ein, zwei Tagen Pause zwischen den Auftritten. Jedes Mal sprach die Presse von ihr wie von einem Genie und bezeichnete sie als »das Wunder Argerich«. Die meisten deutschen Kritiker waren bass erstaunt. »Wie ist das möglich, dass jemand so perfekt Klavier spielen kann?«, schrieb einer von ihnen. Das Publikum im Saal stellte sich die gleiche Frage. Man bewunderte die Intensität ihres Klangs und ihre präzisen Anschläge in Bachs c-Moll-Toccata oder ihre transzendente Virtuosität in der Toccata von Prokofjew. Ein Musikjournalist bekannte aufgewühlt: »In unsere Stadt sind die größten Pianisten gekommen, von
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