Martha Argerich
für die Impresarios zu sein. Im Laufe ihrer Karriere sagte Martha Argerich zahlreiche Konzerte ab, aber es sei an dieser Stelle auch erwähnt, dass sie etwa in Rotterdam trotz eines
Hexenschusses auftrat, in den USA eine Stunde, nachdem ihr ein Zahn gezogen worden war, aufs Podium stieg, mit 39 Grad Fieber in Japan spielte sowie mit einer Nasenschleimhaut-
entzündung in Riga, im Rollstuhl mit Rostropowitsch nach einem Autounfall in Kanada, mit frisch genähter Augenbraue in Schweden nach einem weiteren Unfall, im Minirock in Deutschland, weil ihr Gepäck unterwegs verloren gegangen war … In Prag musste sie in einer Jugendherberge übernachten und ihren Auftrittsort ganz alleine suchen, weil man vergessen hatte, sie am Flughafen abzuholen.
Aus jener Zeit der Plackerei und permanenten Herausforderung stammen nur wenige glückliche Erinnerungen für Martha. Unter den Künstlern ihres Ranges traf sie selten auf solche, die verrückt genug waren, ihre Karriere zu unterbrechen, um sich an andere künstlerische Projekte heranzuwagen. Zu einem der raren schönen Erlebnisse, die sie später, mit Mitte zwanzig, hatte, zählt ein Aufenthalt bei Freunden in einem stillgelegten Bahnhof zwischen Bonn und Bad Godesberg, am Ufer des Rheins
gegenüber der Insel Nonnenwerth, auf der Franz Liszt und
Marie d’Agoult einst mehrere Monate zusammen verbracht hatten. Eine der prägenden Persönlichkeiten vom Bahnhof Rolandseck war der ungarische Bildhauer Lajos Barta, der mitgeholfen hatte, Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten für Künstler sowie Veranstaltungsräume für Ausstellungen und Konzerte in dem Gebäude einzurichten. Als häufiger Gast trat Marcel Marceau dort auf. Auch Swjatoslaw Richter gab dort ein Freundschaftskonzert: Zusammen mit der Cellistin Natalia Gutman und ihrem Mann, dem Geiger Leonid Kogan, spielte er das Trio fis-Moll von César Franck. Der russische Pianist pflegte mit einem Hahn, der ihm ergeben war wie ein Schoßhündchen, im Hof des ehemaligen Bahnhofs herumzuspazieren. Zur Feier von Stefan Askenases fünfundsiebzigstem Geburtstag im Juli 1971 kehrte Martha ein paar Jahre später nach Rolandseck zurück und spielte mit Fou Ts’ong vierhändig Schubert und Mozart.
Um den Bahnhof erwerben zu können, der nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr in Benutzung war und 1964 schließlich vor dem Abriss stand, hatte der ungarische Bildhauer eine kühne Idee ersonnen. In genauer Kenntnis der Urlaubspläne des damaligen Bundeskanzlers Konrad Adenauer, der per Bahn an den Comer See unterwegs war, hatte er denselben Zug bestiegen, um sich bei jedem längeren Halt auf die Bahnhofstoilette zu begeben – in der festen Annahme, dass auch Adenauer früher oder später einem natürlichen Bedürfnis würde nachkommen müssen. Auf diese Weise stand der Bildhauer irgendwann einträchtig Seite an Seite mit dem Vater der Bundesrepublik am Urinal und konnte ihn dazu überreden, sich von seinem Freund Oskar Kokoschka porträtieren zu lassen. Das Honorar für das Gemälde, das sich heute im Deutschen Bundestag befindet, floss in den Kaufpreis des Bahnhofs Rolandseck. Und der berühmte Wiener Maler, ein ehemaliger Klimt-Schüler und Liebhaber von Alma Mahler-Werfel, wurde ein gern gesehener Gast des Kunstzentrums und freundete sich mit der argentinischen Pianistin an.
Zwar legte Martha Argerich 1960 eine Auftrittspause ein, kam aber in jener Zeit offenbar zu dem Ergebnis, dass die Früchte ihrer Beschäftigung mit der Musik zur Reife gelangt seien, denn sie beschloss, ihre erste Platte aufzunehmen.
Hannover
Die erste Plattenaufnahme
An einem schönen Sommertag im Juli 1960 nahm Martha innerhalb von wenigen Stunden ihre allererste Schallplatte auf. Verewigt auf Vinyl wurden: Ravels Jeux d’eau , Prokofjews Toccata op. 11 , Chopins Scherzo Nr. 3 cis-Moll und die Barcarolle Fis-Dur , Liszts Ungarische Rhapsodie Nr. 6 und seine Klaviersonate
h-Moll sowie – eine Skurrilität in ihrem Repertoire – Brahms’ 2 Rhapsodien op. 79 . Drei Jahre waren seit dem Angebot der Deutschen Grammophon vergangen. Endlich unterzeichnete die Pianistin (ohne ihn vorher durchzulesen) den Exklusivvertrag, wobei sie allerdings zur Bedingung machte, selbst entscheiden zu können, was aufgenommen würde, und dies auch erst dann zu tun, wenn ihr der richtige Moment dafür gekommen schien.
Ein paar Tage zuvor hatte Martha beschlossen, ihr Programm dem ehemaligen Lehrer Friedrich Guldas, Bruno Seidlhofer, vorzuspielen, der eine Meisterklasse in Brühl bei
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