Martha Argerich
den Künstler, den sie so sehr bewunderte. 1965, bei seiner historischen Rückkehr in die Carnegie Hall, schickte sie ihm lediglich ein Telegramm. 1978 ging sie zu seinem Auftritt ins Lincoln Center, wo er das Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninow mit den New Yorker Philharmonikern unter Eugene Ormandy gab. Nelson Freire war ihr Begleiter; das ganze Konzert über hielten sie einander an der Hand.
Ein anderes Mal hörte sie ihn 1976 in Los Angeles zusammen mit ihrer Tochter Annie. Er spielte Liszts h-Moll-Sonate . Nach dem Konzert gingen Mutter und Tochter den Künstler beglückwünschen. Als er Martha sah, rief Horowitz: »You are the best!« Verwirrt widersprach sie ihm: »Nein, Maestro, das sind Sie!« Sie küsste ihm die Hand, was ihn entzückte, und Annie schenkte ihm eine Kamelie. 1982 versuchte Martha ihm Ivo Pogorelich vorzustellen, den sie garantiert als Trojanisches Pferd gebrauchen wollte, um Zugang zu ihm zu finden, doch Wanda gelang es einmal mehr, das Unterfangen zu blockieren. Also kam sie zu seinem Konzert im Théâtre des Champs-Élysées im November 1985. Der Magier am Klavier war seit vierunddreißig Jahren nicht mehr in Paris aufgetreten, nachdem der Musikkritiker des Figaro geschrieben hatte: »Horowitz ist der beste Pianist der Welt, aber er ist nicht der einzige.«
Für Martha war er der einzige – und einzigartig noch dazu. Aber das Scheitern ihrer Bemühungen um einen Termin bei ihm im Jahr 1963 hatte ihren Aufenthalt auf dem nordamerikanischen Kontinent jeglichen Sinnes beraubt. Trotzdem blieb sie ein ganzes Jahr dort und schloss einige schicksalhafte Freundschaften, allen voran die zu dem herausragenden Pianisten Fou Ts’ong.
1934 in Shanghai geboren und heute wohnhaft in London, machte Fou Ts’ong 1955 von sich reden, als er den dritten Platz beim Chopin-Wettbewerb errang. Den prestigeträchtigen Preis für die »Beste Aufführung der Mazurken« erhielt er obendrein, was umso erstaunlicher ist, als er China verließ, ohne jemals den geheimnisvollen Rhythmus dieses Tanzes erlernt zu haben. Ein echtes Wunder! Man muss in dem Zusammenhang wissen, dass die Mazurken für Kenner so etwas wie den Heiligen Gral darstellen. Es gibt nur wenige Pianisten, die in der Lage sind, das Geheimnis dieser Musik zu ergründen, in der sich die ganze Seele Chopins verbirgt. Manch einer behauptet sogar, nur ein Pole, der von Kindesbeinen an mit der Folklore seiner Heimat vertraut ist, sei überhaupt dazu imstande. Fou Ts’ong wusste von all dem nichts. »Meine intensive Beschäftigung mit der chinesischen Poesie hat mir den Schlüssel zu Chopins Werk gegeben, allem voran zu seinen Mazurken«, lautet seine Begründung.
Sein Vater Fou Lei war ein großer Übersetzer französischer Literatur ins Chinesische, maßgeblich von Balzac. Dai Sijie erweist ihm seine Reverenz in dem Roman Balzac und die kleine chinesische Schneiderin . Als Mao den »Großen Sprung nach vorn« proklamierte, wurde Fou Lei zu einem gesuchten Opfer der chinesischen Polizei: zum einen als Intellektueller, zum anderen, weil er einen Sohn im Ausland hatte. Eines Tages legte er sich mit seiner Frau ins Bett und drehte den Gashahn auf. Es waren weniger die ständigen Demütigungen und Bedrohungen, die ihn zu
diesem Schritt veranlasst hatten, als die enttäuschte Liebe zu seinem Vaterland und die Tatsache, dass er einfach nicht verstand, warum man ihn so vieler Vergehen bezichtigte. Heute unterrichtet Fou Ts’ong in London und in der Internationalen Klavierakademie am Comer See. Sein immenses Wissen um das Werk Wolfgang Amadeus Mozarts lässt Schüler aus der ganzen Welt zu ihm kommen. Er besteht darauf, dass diese vor allem gegen Ende des Adagio h-Moll KV 540 ihr Tempo nicht verlangsamen. »Diese sublime Musik hat weder Anfang noch Ende, sie
ist einfach da, für immer. Wenn man mit einem Rallentando darauf verweist, dass sie sich dem Ende zuneigt, schmälert man ihre Bedeutung.« Er bringt ihnen auch bei, dass sie, wenn sie Bach oder Scarlatti spielen, nicht den Klang des Cembalos nachahmen und den aktuellen Klischees in der Interpretation von Barockmusik misstrauen sollen. »Wahre Kunst ist zeitlos und der große Stil stets im Verborgenen zu finden«, bekundet er. »Einen bestimmten Stil zu vertreten ist zwangsläufig verkehrt. Den Altvorderen missfiel es, wenn etwas zu offensichtlich war. Was man häufig für Stil hält, ist nichts als eine Mode!«
1963 befand sich Fou Ts’ong gerade auf einer Tournee durch Amerika. Mit einer Freundin
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