Martha Argerich
vereinbarte er, vor seinem ersten Auftritt auf ihrem Klavier üben zu dürfen. In der Wohnung, in der das Klavier stand, lebte damals Martha Argerich. »Du wirst dich schon mit ihr arrangieren«, hatte die Freundin gesagt, »ich glaube, sie spielt sowieso kaum noch.« Fou Ts’ong hätte sein Übungsprogramm genauso gut in den Räumlichkeiten der Firma Steinway absolvieren können, die reisenden Pianisten ihre Instrumente zur Verfügung stellte, doch er war neugierig darauf, diese junge Frau kennenzulernen, über die die seltsamsten Gerüchte im Umlauf waren. Er rief morgens bei ihr an, doch niemand ging ans Telefon. Er rief nachmittags bei ihr an, und eine verschlafene Stimme antwortete ihm: »Du kannst kommen, wann du willst.« Am nächsten Morgen stieß Fou Ts’ong einfach die Wohnungstür auf, die nicht verschlossen war. Von irgendwoher scholl ihm eine Art Begrüßung entgegen. Er spielte vier Stunden lang, ohne den Tiefschlaf seiner Gastgeberin im Geringsten zu stören. »Um 14 Uhr sah ich plötzlich eine unglaubliche Mähne im Türrahmen auftauchen, und eine Kinderstimme sagte zu mir: ›Hallo!‹ Das war sie.«
Die beiden Pianisten begannen sich zu unterhalten. Als sie das nächste Mal auf die Uhr schauten, war es Nacht geworden. Sie gingen auf einen Sprung zu Zabar’s, jenem legendären Feinkostladen, in dem sich Martha immer mit Lebensmitteln versorgte, die sie dann vor dem Fernseher verschlang. Sie hat sich diese zwanghafte Leidenschaft für den Bildschirm übrigens bis heute bewahrt, ob es sich nun um Medizinsendungen oder Varietéshows handelt. Sie kann stundenlang über die Fortbewegung von Spermien referieren, wenn die Wissenschaftssendung vom Vorabend diesen Sachverhalt behandelt hat, angereichert durch tausend Details aus ihrem persönlichen Erfahrungsschatz. Natürlich schaut sie sich auch Filme oder Talkshows an, aber am besten gefallen ihr Serien – und zwar von der allersentimentalsten Sorte. Vor diesem mit Verrat und Eifersucht angereicherten Kitsch hockt sie dann genauso hypnotisiert, reglos und still wie das Kaninchen vor der Schlange.
Fou Ts’ong und Martha kamen sich sehr schnell sehr nahe. Damals war sie besessen von der Angst, an Krebs zu erkranken, und studierte jeden Artikel, der dieses Thema behandelte. Der kleinste Leberfleck, das kleinste Wehwehchen konnten sie in abgrundtiefe Verzweiflung stürzen, ohne dass sie auch nur eine Sekunde lang daran dachte, ihren immensen Zigarettenkonsum einzuschränken. Fou Ts’ong wunderte sich sehr darüber, dass er sich einem Menschen so nahe fühlen konnte, den man ihm als wild, unzugänglich und launisch beschrieben hatte und der in ihm zu lesen schien wie in einem offenen Buch. Überdies fand er, dass Martha unglaublich charmant war. Nie zuvor hatte er jemanden getroffen, der so spontan sein konnte und so neugierig auf sein Gegenüber. Er war berührt von ihrer Bescheidenheit, ihrem absoluten Mangel an Eitelkeit, aber auch von ihrer de-
struktiven Seite. Als er sie früh am nächsten Morgen verließ, damit sie in Ruhe ausschlafen konnte, wurde ihm klar, dass er sich unsterblich in sie verliebt hatte. Martha kam zu seinem Konzert, und nachdem seine Tournee beendet war, sahen sie sich so oft wie möglich. Sie gestand ihm ihre Angst davor, Mozart zu spielen. Doch einmal spielte sie, aus einer bloßen Laune heraus, eine Arie aus Le nozze di Figaro auf so vollendete, reine Weise, dass er regelrecht überwältigt war. Dennoch befand sie sich nach wie vor im Klavierstreik. Es war wie eine Erinnerung an ein altes Leben, an eine vergangene Zeit. Dies bedrückte Fou Ts’ong sehr, denn er hatte das Gefühl, in Marthas Spiel den Pulsschlag des Universums zu vernehmen. Sie »spielte« nicht Bach – nein, sie ließ die Sonne über dem Erdball aufgehen. Doch diese Klarheit, die alles in ihrem Licht erstrahlen ließ, blendete sie selbst und verbrannte ihr die Finger. Ihre gequälte Seele und ihre schwachen Nerven hatten sich in einer Art Sonnenfinsternis eingerichtet, in deren wohltuendem Dunkel sich Martha sicher zu fühlen schien.
Eines Tages stellte ihr Fou Ts’ong seinen Freund Robert Chen vor, einen neunundzwanzigjährigen chinesischen Komponisten, der in Princeton bei einem Schüler von Arnold Schönberg studierte. Er arbeitete nebenbei als Kellner in einem Restaurant, um sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber auch, wie er stolz verkündete, um sich an der Realität zu reiben und nicht in seinem »Elfenbeinturm« zu vereinsamen. Das Duo
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