Martha Argerich
Weil mein Spiel sehr transparent ist, kann man jeden Fehler hören. Aber eine Partitur ist keine Bibel. Ich habe keine Angst vor Wagnissen. Ich spiele frei ›im großen Stil‹, denn die Musik befindet sich sowieso jenseits der Noten.« Die Kritiker rümpften nicht selten die Nase, doch die Musiker waren fasziniert von seiner unglaublichen Kenntnis der pianistischen Möglichkeiten und von seiner Klangfantasie. In den Zwanzigerjahren, als Horowitz in einem Pariser Salon ein Konzert mit Ravels Jeux d’eau gab, kam ein älterer Herr auf ihn zu. »Bravo, Sie spielen wie Liszt!«, sagte er. »Hier pflegt man impressionistischer an die Sache ranzugehen, aber Sie machen es genau richtig. Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen: Mein Name ist Maurice Ravel.« Später, als Rachmaninow Horowitz mit seinem Klavierkonzert Nr. 3 hörte, kam er auf die Bühne und erklärte: »Genau so habe ich mir immer vorgestellt, dass jemand mein Stück spielt. Aber ich habe nicht zu hoffen gewagt, das noch einmal erleben zu dürfen, zumindest nicht auf dieser Welt.«
Horowitz, der im Gegensatz zur Ansicht vieler Leute höchst intelligent und kultiviert war, kannte die Risiken, die sein freier und abenteuerlustiger Geist ihm auferlegte. »Ah, ah! Hören Sie mal, was ich jetzt mache … Das zeugt nicht gerade von gutem Geschmack, aber das ist doch lustig, oder?« Das Publikum war im gleichen Maße begeistert von Horowitz wie seine Kollegen durch ihn in eine Krise gestürzt wurden. Nachdem er ihn in den Dreißigerjahren in Paris gehört hatte, verschwand Arthur Rubinstein für mehrere Jahre in der Versenkung, um seine Technik komplett zu überarbeiten. Und Clara Haskil definierte das Phänomen wie folgt: »Ein Satan am Flügel.« Zweifellos war dies der Grund, warum Martha so fixiert auf Horowitz war: Nachdem sie sich eineinhalb Jahre mit Michelangeli im Paradies gelangweilt hatte, wollte sie endlich die Verlockungen der Hölle und den Teufel persönlich kennenlernen.
Seit 1953 gab Horowitz keine Konzerte mehr. Sein zehnjähriges Schweigen hatte zur Bildung der Legende nur beigetragen. Die Welt wartete ungeduldig darauf, dass er seinen Eid brach, nie mehr öffentlich spielen zu wollen. Der winzigste Hoffnungsschimmer auf eine mögliche Rückkehr war Anlass genug für einen Artikel auf der ersten Seite der New York Times.*
* Das Ereignis fand schließlich am 9. Mai 1965 in der Carnegie Hall statt. Die Liveaufnahme erschien bei CBS unter dem Titel Die historische Rückkehr .
1963 war Horowitz sechzig Jahre alt und lebte völlig zurückgezogen in seiner Wohnung in der 94. Straße in Manhattan. Hin und wieder empfing er junge Pianisten, denen er Ratschläge gab, welche diese allerdings nicht immer verstanden. Mit halb geschlossenen Augen auf seinem Sofa liegend, stets wie aus dem Ei gepellt, eine seiner geliebten Fliegen umgebunden und eine abgebrannte Zigarette zwischen den Fingern, hörte er sich ihre
Darbietungen an. Er sprach ein Gemisch aus Englisch und Französisch. Murray Perahia war einer der wenigen Auserwählten, die zu ihm vorgelassen wurden. »Ich möchte mehr sein als nur ein Virtuose«, hatte er naiv, wie er damals war, dem Maestro erklärt. Horowitz hatte ironisch gelächelt und erwidert: »In Ordnung. Aber um dahin zu kommen, muss man erst mal ein Virtuose sein!«
Im Laufe des Sommers 1963 bezog Martha eine kleine Wohnung in der 80. Straße in Upper West Side, nicht weit von ihrem Idol entfernt. Immerhin hatte ihr Horowitz, als zwei Jahre zuvor ihre erste Schallplatte bei der Deutschen Grammophon erschienen war, einen sehr freundlichen Brief geschrieben. Martha wusste auch von gemeinsamen Bekannten, dass der »Zugabespieler« (wie Strawinsky ihn boshafterweise genannt hatte) gelegentlich in Anwesenheit von Gästen ihre Einspielung von Liszts Ungarischer Rhapsodie Nr. 6 auflegte und diese in dem Glauben ließ, es handle sich um seine eigene, weil er sich den Spaß machen wollte, ihre Reaktionen zu beobachten.
Wie immer war es Juanita, die sich darum bemühte, eine Verabredung » not too early « mit Horowitz’ Sekretariat zu vereinbaren. Die Zulassungsprozedur war hart. Martha musste sich erst mit seinem Assistenten treffen, der sie »einem wahren Polizeiverhör« unterzog, ohne ihr auch nur eine einzige Tasse Kaffee anzubieten. Ein paar Tage später wurde ein Termin mit dem Meister persönlich vereinbart, doch das Treffen kam nie zustande. Manche Stimmen behaupten, die Pianistin selbst hätte im letzten Moment
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