Martha Argerich
abgesagt – während sie hingegen meint, es sei nie wirklich ein Termin vereinbart worden. Wieder andere Zeitzeugen (etwa der Pianist Jean-Philippe Colard) erklären, Vladimir Horowitz habe Angst davor gehabt, Künstlern zu begegnen, die ihm ähnlich waren – das genaue Gegenteil zu Martha, die so verzweifelt auf der Suche nach einem Seelenverwandten war. Juanita riss sich ein Bein aus, um die Sache doch noch zu einem guten Ende zu bringen, bedrängte Nathan Milstein, Rudolf Serkin, Gregor Piatigorsky, denen ein enges Verhältnis zu Horowitz nachgesagt wurde. Doch es war nichts zu machen. Martha Argerich fragt sich noch heute, ob nicht vielleicht Horowitz’ Frau am Scheitern des Zusammentreffens beteiligt war, die gefürchtete Wanda, Arturo Toscaninis Tochter, ob diese ihm auferlegt hätte, niemanden mehr zu empfangen. Wanda, die sehr eifersüchtig werden konnte, wenn man ihrem Mann zu nahe kam, pflegte allerdings eher junge Männer als Mädchen von ihm fernzuhalten, doch womöglich hatte der Ruf des argentinischen Wirbelsturms ihr Angst gemacht.
Diese ärgerliche Episode hat Marthas Begeisterung für Horowitz’ Klavierspiel indes keinen Abbruch getan. Ihr zufolge ist er »der beste Geliebte, den sich das Klavier erträumen kann«. Es gab aber auch sehr negative Urteile über ihn. Swjatoslaw Richter sagte, sein Spiel sei »unerträglich manieriert, unrein und oberflächlich«. Der Mann sei »eine erstaunliche Mischung aus Arroganz und Dummheit«, vermochte Arthur Rubinstein ihn noch zu übertreffen. Martha scherte sich nicht um solche Aussagen. Sie war betört von Horowitz’ Klangfülle, die sich von allen an-
deren unterschied, von der Anmut und Klarheit seines Spiels, vom großartigen, geradezu schwindelerregenden Nachhall. Seine stets originellen und unerwarteten Phrasierungen berauschten sie. Dank seiner unvergleichlichen Kenntnis sämtlicher Geheimnisse des Pianos war Horowitz in der Lage, eine unendliche Farbenvielfalt hervorzubringen. Er war ein echter Virtuose im althergebrachten Sinne des Wortes – niemand, der durch sein Tempo beeindruckte, sondern ihm gelang es einfach, das Instrument seinem Sinn für Poesie und seiner unerschöpf-
lichen Fantasie unterzuordnen. Yehudi Menuhin behauptete, Horowitz sei »vom Klavier so besessen wie nie ein Mensch zuvor«, was sowohl eine Anspielung auf das Phänomen des Übernatürlichen war als auch auf den Geschlechtsakt hindeutete. Und tatsächlich muss man Horowitz’ Beziehung zu seinem Steinway wohl unter diesem Aspekt betrachten, wenngleich die Ausmaße und Charakteristika des Flügels jeden Gedanken an eine Verschmelzung – im Vergleich mit der Geige oder mit dem Cello – ziemlich absurd erscheinen lassen. Verstandesmenschen und Puristen vermochten der Kunst eines Vladimir Horowitz nichts abzugewinnen. Martha (die weder das eine noch das andere ist) war sehr beeindruckt, als man ihr erzählte, dass sich bei einem Vorspiel gegen Ende seines Studiums am Kiewer Konservatorium Mitstudenten und Professoren wie im Bann der Musik langsam von ihren Stühlen erhoben hätten, bis sie endlich in Begeisterungsstürme ausgebrochen seien. Offenbar hatte sie völlig vergessen, dass sie beim Genfer Klavierwettbewerb ihr Auditorium, das wie in Trance noch vor dem Applaus aufgestanden war, gleichermaßen verzückt hatte.
»Horowitz hatte eine unglaubliche Wirkung auf mich«, seufzt sie wie eine verliebte Frau. Hatte sie Angst um ihr Seelenheil, wenn sie ihm begegnen würde? Horowitz selbst glaubte am Tag vor seinem Vorspiel bei Rachmaninow, sterben zu müssen. Vielleicht besaß Martha Argerich den erforderlichen Mut einfach nicht. Und dennoch ist sie bis heute die einzige Pianistin, die mit dem ukrainischen Zauberer zu vergleichen wäre. Die Finger-
fertigkeit von Horowitz, seine elektrisierende Persönlichkeit, die gewaltige Kraft seiner Oktaven, seine fantasiegeladenen Phrasierungen, die Immaterialität seiner Pianissimi, seine Fähigkeit, eine unendliche Vielfalt an Zwischentönen hervorzubringen – alle diese Qualitäten finden sich auch in ihrem Spiel. Sowohl seine als auch ihre Kunst ist ebenso Zauberei wie großer Stil. Nicht zu vergessen: Horowitz war, wie seine »Doppelgängerin« Argerich, ein genialischer Schumann-Interpret, und beide sind sie jeder auf seine Art Ausnahme-»Klassiker«: Horowitz’ Scarlatti- und Argerichs Bach - Aufnahmen zählen zu den Höhepunkten der Plattengeschichte.
Während ihrer gesamten Karriere traf Martha nur zwei- oder dreimal auf
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