Martha Argerich
passiert waren, eine fantastischer als die andere.
Die Brasilianerin hatte sich mit ihren beiden Söhnen, deren Freundinnen und den Kinderfrauen in die Suite eines Grandhotels zurückgezogen. Um die Miete bezahlen zu können, hatte sie im Salon ein Tuareg-Zelt für einen arabischen Prinzen und seine Freunde aufschlagen lassen, der auch während seiner New-York-Trips nicht auf seine Gewohnheiten verzichten mochte. Weil er sich sehr großzügig zeigte, war es ihr eine Ehre,
ihm eigenhändig das Frühstück zuzubereiten, wobei sie das ganze Hotel mit dem Gestank nach verbrannten Toasts verpestete. Wenn Nelson Freire und Martha sie einmal mitten in der Nacht besuchten, ließ sie sie nicht wieder gehen, überließ ihnen ihr Bett und legte sich selbst unters Klavier oder verzog sich ins Badezimmer, um dort Gitarre zu spielen. Jahre später musste Martha zu ihrem großen Bedauern erfahren, dass Olga großes Pech gehabt hatte. Ende der Siebzigerjahre kehrte sie vollkommen mittellos nach Brasilien zurück, wo sie halb erblindet noch viele Jahre verbrachte, bis sie 2008, kurz nach ihrem neunundneunzigsten Geburtstag, starb.
Martha und Robert Chen blieben nicht sehr lange zerstritten, aber es war klar, dass sie niemals wieder zusammenziehen würden. Als der Geburtstermin herannahte – obwohl ihr Körper von der Schwangerschaft wenig Notiz zu nehmen schien –, empfand die künftige Mama das Bedürfnis, die eigene Mutter an ihrer Seite zu haben, und kaufte sich ein Flugticket nach Genf. Robert hatte größtes Verständnis für ihren Entschluss. Wenn er die
Ereignisse, die mit dieser Entscheidung verknüpft waren, hätte voraussehen können, hätte er wohl alles getan, um sie zurückzuhalten.
Von Genf nach Brüssel
Martha wird Mutter
In Genf brachte Martha am 28. März 1964 eine Tochter zur Welt. Sie stand kurz vor ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag und hatte das Gefühl, das Leben zerrinne ihr zwischen den Fingern. Ganz allmählich begann sie zu begreifen, dass nicht alles im Leben dem eigenen Willen unterliegt. Immerhin hielten ihr die Freunde die Treue, und Juanita zeigte sich von unerwartet zartfühlender Seite. Chen, der sowohl aus beruflichen Gründen als auch wegen fehlender Papiere in Amerika geblieben war, hatte sein Einverständnis zu dem Vornamen Lyda gegeben, der auf Lyda Fournier zurückging, die Frau des Cellisten Pierre Fournier. Diese kosmopolitische, leicht überspannte Russin besaß eine äußerst scharfe Zunge und sprach alles, was ihr durch den Kopf ging, mit entwaffnender Spontaneität laut aus. Ihre Untreue war notorisch: Sowohl der Geiger Jascha Heifetz als auch der Schauspieler Rudolph Valentino waren ihrem Charme erlegen und hatten unter ihrer Oberflächlichkeit gelitten. Lyda war auch mit dem Cellisten Gregor Piatigorsky verheiratet gewesen und machte Fournier verrückt damit, dass sie ständig ihrer beider Spielkunst miteinander verglich. Martha mochte sie
sehr.
Zehn Tage nach der Geburt musste das Baby wegen akuter Verdauungsprobleme zurück in die Klinik, sodass die Pianistin allein mit ihrer Mutter zu Hause blieb. Juanita ergriff die Chance, um sie von der Teilnahme am internationalen Con-
cours Reine Elisabeth in Brüssel zu überzeugen, der im Mai stattfinden sollte. Martha hatte seit drei Jahren kein einziges Konzert mehr gegeben, sie musste ein wenig angeschoben werden, um wieder in den Sattel zu steigen. Nicht zu reden davon, dass sie mittlerweile eine Familie hatte, die sie ernähren musste! Just zu dieser Zeit bezog Nelson Freire eine kleine Wohnung in Genf, nachdem er sich mehrere Monate in Brasilien unsterblich gelangweilt hatte. Sein Studium in Wien hatte zu keinem konkreten Ergebnis geführt, und seine Karriere kam nicht recht ins Laufen. Martha überredete ihn, sie nach Brüssel zu begleiten, damit sie sich beide bei dem Wettbewerb präsentierten. Juanita würde in Genf bleiben und sich um das Baby kümmern, das aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit in einer speziellen Einrichtung für Säuglinge und Kleinstkinder untergebracht wurde. Die beiden Pianisten wählten als ihr Domizil das Haus der Villa-Lobos aus (die weder verwandt noch verschwägert mit dem Komponisten waren), einem Musik liebenden brasilianischen Diplomatenehepaar, das einen Steinway besaß.
Ein paar Tage vor Beginn des Wettbewerbs war sich Martha noch immer nicht sicher, ob sie wirklich daran teilnehmen sollte. Wozu schon wieder ein Wettbewerb? Ganz wie es ihrer Gewohnheit entsprach, fragte sie ihre Freunde
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