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Martha Argerich

Martha Argerich

Titel: Martha Argerich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bellamy
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nach ihrer Meinung, ohne jedoch eine Entscheidung treffen zu können. Vollkommen desorientiert flog sie zu Fou Ts’ong nach London. »Du hast ein Kind. Du hast seit Monaten kein Klavier mehr angefasst. Du musst etwas tun!«, redete er ihr ins Gewissen. Am nächsten Tag brachte er sie zum Flughafen und sprach noch immer auf sie ein. Als sie am Zoll das Ausreiseformular ausfüllte, blickte Fou Ts’ong ihr über die Schulter. In die Spalte »Beruf« hatte sie »Studentin« geschrieben. Trotz ihrer Erfolge, trotz ihrer Reputation hatte sie dieses Bild von sich. Vermutlich hat sich bis heute nur wenig daran geändert.
    Der Concours Reine Elisabeth galt im damaligen Brüssel als das Kulturevent der Saison. Die einzelnen Darbietungen wurden von einem Musikkritiker im Radio kommentiert und das Finale auf einem besonderen Sendeplatz einem breiten Publikum zugänglich gemacht. Nicht selten kam es vor, dass sich selbst Taxifahrer für den einen oder anderen Kandidaten begeisterten und die Ergebnisse diskutierten, als handelte es sich um ein Fahrradrennen. Der einzige belgische Fernsehsender strahlte täglich eine Sendung zum Thema aus, die in den Abendnachrichten noch einmal zusammengefasst wurde. Man erkannte die Teilnehmer auf der Straße und wünschte ihnen viel Glück. Der Durchgang von 1964 wurde durch die Auswahl der Jurymitglieder für Klavier besonders interessant: Leon Fleisher, Emil Gilels, Eduardo del Pueyo, Alexander Brailowsky (ein Pole, der sich so sehr mit Chopin identifizierte, dass er bei Konzerten Blut zu spucken pflegte) und Stefan Askenase zählten zu der illustren Runde. Vollkommen unbeeindruckt vom Medienrummel und ohne jede Überzeugung in der Brust, begab sich Martha zum Konservatorium, wo der Wettbewerb stattfinden sollte. An ihrer Seite Martín Tiempo, der sich extra einen Tag freigenommen hatte, um sie zu begleiten. Als die Reihe an ihr war, entschuldigte sie sich bei den Organisatoren mit der Ausrede, sie fühle sich nicht inspiriert. Ihr Fernbleiben löste insbesondere bei Stefan Askenase Enttäuschung aus, der ihrem Talent eine große Bewunderung entgegenbrachte. Dennoch setzte sie sich ins Pu-
blikum, um sich die anderen Kandidaten anzuhören und Nelson Freire zu unterstützen, der unglücklicherweise gleich in der ersten Runde ausschied. Es heißt, dass der Königin seine Darbietung sehr gefallen habe, aber allein die Tatsache, dass er eines der Jurymitglieder nicht überzeugt hatte, war ausschlaggebend für seinen Ausschluss aus dem weiteren Wettbewerb. Martha war vollkommen außer sich über diese Entscheidung. Bei viel Wein verbrachten die drei Freunde den Abend in tiefer Depression – sie drei gegen den Rest der Welt.
    An den folgenden Tagen entzückte sich das belgische Pu-
blikum an dem Wettstreit, der sich zwischen zwei russischen Pianisten abspielte. Der Favorit Nikolai Petrov, ein echtes Produkt der sowjetischen Klavierschule, profitierte von der Anwesenheit seines Professors Yakov Zak in der Jury, während Evgeny Mogilevsky, der von den Apparatschiks als Außenseiter betrachtet wurde, in der Klasse des großen Heinrich Neuhaus einen viel raffinierteren und weniger überladenen Stil erlernt hatte. Martha begeisterte sich für Letzteren und verteidigte ihn mit Verve. Ihr Enthusiasmus amüsierte Martín Tiempo: Mogilevsky hatte große schwarze Augen und ein romantisches Profil, während Petrov dick und unattraktiv war. Beim Finale im Palais des Beaux-Arts vereinigte Mogilevsky mit seiner fantastischen Interpretation von Rachmaninows Klavierkonzert Nr. 3 alle Stimmen auf sich. Er errang den ersten Platz, während sein Rivale sich mit dem zweiten Platz begnügen musste, was in der russischen Delegation für einigen Unmut sorgte. In den folgenden Jahren gehörte Petrov zu den wenigen Privilegierten, die außerhalb der UdSSR konzertieren durften, während die meisten ausländischen Einladungen, die der am Moskauer Konservatorium lehrende Mogilevsky erhielt, unberücksichtigt blieben. Trotzdem konnte dieser 1973 bei einem Auftritt in den USA , erneut mit dem Klavierkonzert Nr. 3 von Rachmaninow unter Leitung von Kyrill Kondraschin und mit den Moskauer Philharmonikern, einen großen Erfolg erzielen. 1991 war es ihm dank Perestroika endlich möglich, den Eisernen Vorhang zu überwinden und sich in Brüssel niederzulassen, wo er am Königlichen Konservatorium sofort eine Stelle als Klavierprofessor erhielt. Sein Sohn Alexander Mogilevsky erwies sich ebenfalls als hochtalentierter Pianist.*
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