Martha Argerich
Marthas Freundin Diane, bei der die Pianistin sich zur Erholung befand. Lyda kann sich nur noch an die Hand ihres Vaters erinnern, die sie nicht loslassen wollte, und an das Gesicht ihrer Mutter im Halbdunkel des Zimmers, das hinter dichtem Zigarettenqualm verborgen war. Nicht lange danach erkrankte die älteste der Seidel-Schwestern, und das Kind wurde der Obhut der Nonnen vom Institut Catholique La Salésienne anvertraut. Robert sah seine Tochter nur noch am Wochenende. Sie hatte viel zu beklagen: Das Essen schmecke ihr nicht, die Mittagsruhe sei endlos und ständiges Beten Pflicht. Mit sieben Jahren wurde Lyda bei Genfer Pflegeeltern untergebracht, die auch zwei eigene Kinder hatten. Lyda besuchte die École primaire Contamines, die sich in der Nähe der Wohnung ihrer Mutter befand.
Robert Chen war sich durchaus darüber im Klaren, dass seine Tochter nicht glücklich war. An dem Tag, an dem er erfuhr, dass ihre »böse Stiefmutter« sie geohrfeigt hatte, reichte er einen Antrag beim Jugendgericht ein. Er konnte Lyda zu sich nehmen, deren Leben endlich begann.
Warschau
Der Chopin-Wettbewerb von 1965
Als einziger großer Klavierwettbewerb, der sich ausschließlich dem Werk eines Komponisten widmet, hat sich der Warschauer Chopin-Wettbewerb zu einem echten Mythos entwickelt. Eine »herrliche Verrücktheit«, so der Kommentar von Nikita Magaloff. Naturgemäß hat auch dieser Wettbewerb zum Ziel, einen Ausnahmepianisten zu küren, doch das ist längst nicht alles. Ein großes Ideal bewegt ihn: dem Werke Chopins zu dienen, eine Art Stilschema für die Interpration seiner Stücke zu etablieren, die reine Lehre zu finden, die es um jeden Preis zu bewahren gilt. So nimmt es nicht weiter wunder, dass man sich im Zusammenhang mit dem Wettbewerb immer wieder an die christliche Liturgie erinnert fühlt: bei der Textauslegung, bei der Zeremonie selbst, der tiefen Frömmigkeit der Gläubigen … Vergessen wir nicht, dass der Austragungsort in Polen liegt! Heutzutage hat sich die Zahl der internationalen Wettbewerbe proportional zum Verlust ihrer Bedeutung erhöht. Doch der Chopin-Wettbewerb in Warschau hat sein internationales Renommee, seine Macht über die Welt der Musik und seine Medienattraktivität fast ungebrochen halten können.
Seit seiner Gründung 1927 findet er lediglich alle fünf Jahre statt, um das besonders hohe Niveau bei den Kandidaten nicht zu verwässern. Man kann schließlich nicht jedes Jahr ein neues Genie auftun, auch nicht alle drei Jahre. Um den vierten Wettbewerb (1949) auf den hundertsten Todestag von Chopin fallen zu lassen, wurde der Zyklus leicht verändert, doch schon ab 1955 griff der Fünfjahresplan wieder, wodurch der Wettbewerb von 2010 just mit den Feierlichkeiten zum zweihundertsten Geburtstag des Komponisten zusammenfallen sollte.
Abgesehen davon, dass Maurizio Pollini in jeder Hinsicht als einzigartiger Künstler gelten kann, läutete sein Sieg im Jahr 1960 die Ära eines kompromissloseren, objektiveren Interpretationsstils ein, dessen unvergleichliche Technik das von einem echten Virtuosen zu erwartende Niveau gleich um mehrere Stufen anhob. Ohne dass Martha Argerich dieses Niveau unterschritten hätte, wirkte ihr Triumph von 1965 indes wie eine Wendung zurück zur Romantik und gemahnte an die Bedeutung des Natürlichen und Intuitiven bei der Realisierung musikalischer Werke. Mit seinem Sieg beim Chopin-Wettbewerb beendete Pollini die Serie seiner ungleich erfolgloseren Versuche bei ähnlichen Unternehmungen, die er trotz seines Widerwillens gegen jede Art von Konkurrenzkampf auf sich genommen hatte, und konnte sich nun endlich restlos der Musik hingeben. Ein ganz anderer Fall also als der von Martha Argerich, die bereits acht Jahre zuvor zwei wichtige Wettbewerbe gewonnen, eine europäische Karriere gestartet und eine von der Kritik einstimmig bejubelte Platte veröffentlicht hatte. Sie hatte eine Phase der Lustlosigkeit und tiefer Zweifel hinter sich gebracht, eine echte Krise, die viel Ähnlichkeit mit einer Depression hatte. Ihr Ehrgeiz war nicht groß genug, um sich aus eigener Kraft daraus zu befreien. Friedrich Gulda hatte sie auf den Weg der Kunst gebracht, Nikita Magaloff war ihr während der schwierigen Zeit des Erwachsenwerdens ein geduldiger, verständnisvoller und fürsorglicher Tutor gewesen, nun brauchte es jemanden, der erneut ihre Liebe zur Musik entfachte, der ihre Kreativität stimulierte und sie darin ermutigte, ihren inneren Dämonen zu trotzen. Weder Michelangeli
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