Martha Argerich
noch Horowitz hatten diese Rolle ausfüllen können. Der Pianist Stefan Askenase sollte der Mann der Stunde werden, der Katalysator, der so lang herbeigesehnte Funke.
Geboren in Polen, beheimatet in Brüssel, wurde er als einer der bedeutendsten Chopin-Interpreten angesehen. Seine bei der Deutschen Grammophon veröffentlichte Gesamtaufnahme der Werke Chopins beweist seine intime Kenntnis dieses Universums, einen sicheren Stil und untrüglichen Blick. Unter seiner väterlichen Obhut widmete sich Martha ihren Studien mit Feu-
ereifer. Der Wettbewerb wurde schon bald das natürliche Ziel ihrer Chopinstudien, in deren Geheimnisse sie Nikita Magaloff bereits eingeführt hatte. Martha Argerich war zu jener Zeit keinesfalls eine »Chopin-Expertin«. Sie beherrschte zwar durchaus das Klavierkonzert Nr. 1 , die vierundzwanzig Préludes , die Sonate Nr. 3 h-Moll sowie einige weitere Stücke, aber ihre Kenntnis vom Gesamtwerk des Komponisten war doch sehr eingeschränkt. »Sie hatte noch nie etwas von den Mazurken gehört«, erinnert sich Nelson Freire amüsiert.
Bei den Askenases fand Martha vor allem die Wärme und Stabilität eines Zuhauses, das sie die umzugsbedingte Abwesenheit ihrer Familie und den fehlgeschlagenen Versuch der Gründung einer eigenen Familie vergessen ließ. Vor allem Annie Askenase, der Frau von Stefan, fühlte sie sich sehr verbunden, die damals mit bravouröser Tapferkeit gegen ihre Krebserkrankung ankämpfte. Martha, für die Annie eine »Sonne« war, gab ihrer zweiten Tochter als Zeichen posthumer Anerkennung ihren Namen.
Bevor sie sich den Herausforderungen des Chopin-Wettbewerbs stellte – man zieht nicht unbewaffnet in den Kampf um Warschau –, begann Martha ihre konzertanten Verpflichtungen an dem Ort wiederaufzunehmen, an dem sie zuletzt das Handtuch geworfen hatte: in München. Wenn man so will, eine Art Probelauf vor einem verlässlichen und fordernden Publikum, das sie kannte und das ihr schon mehrmals seine Zuneigung bewiesen hatte. Der Empfang war mehr als herzlich, doch Martha erntete für ihr Recital eine der negativsten Kritiken ihrer ganzen Karriere. Autor dieses Verrisses war Joachim Kaiser, einer der einflussreichsten und anerkanntesten deutschen Musikkri-
tiker, der viele Jahre eine leitende Funktion im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung innehatte. Der spätere Professor für Musikgeschichte an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart, der selbst mit acht Jahren seine erste Klavierstunde erhielt, ist der Autor mehrerer Bücher, darunter der sehr erfolgreichen Anthologie Große Pianisten in unserer Zeit . Für Martha war die Kritik ein harter Schlag. Doch die Kritiken, die sie selbst betrafen, vermochten sie nicht so sehr zu schockieren wie die, die ihre Freunde einstecken mussten. Außerdem konnte sie jetzt, wo sie bereit war, ihr Territorium zurückzuerobern, kaum mehr etwas aufhalten. Ein anderes Recital in der Londoner Wigmore Hall war ebenfalls Teil ihrer sanften Rückkehr zum Adrenalin des Auftritts. In der englischen Hauptstadt traf sie Fou Ts’ong wieder, der sich an ihrer »ruhigen Wiedergeburt« erfreute.
Rein strategisch betrachtet lag für die Pianistin durchaus ein gewisses Risiko darin, sich nach vier Jahren des Schweigens nun ausgerechnet beim Chopin-Wettbewerb zu präsentieren. Die Juroren waren »launischen Kandidaten« gegenüber nicht gerade positiv eingestellt.* Und Marthas chaotischer Lebensstil, ihre persönlichen Schwierigkeiten und ständigen Absagen hatten sich in der Musikwelt durchaus herumgesprochen und wurden von manch einem als »kindisches Verhalten« abgeurteilt.
* Der Pianist Dong-Hyek Lim musste beim Chopin-Wettbewerb von 2005 eine vergleichsweise erniedrigende Erfahrung machen. Zwei Jahre zuvor hatte der Koreaner beim Concours Reine Elisabeth in Brüssel den dritten Platz errungen, war jedoch aus Ärger, weil er nicht auf die oberste Stufe des »Siegertreppchens« hatte klettern dürfen, der Zeremonie ganz ferngeblieben und hatte sich geweigert, seine Trophäe entgegenzunehmen. In Warschau stutzten die Juroren den Frechdachs zurecht, indem sie ihm erneut den dritten Platz gaben – ja sie gingen sogar so weit, ihn ex aequo mit seinem Bruder zu stellen, den Spitzenplatz dem Polen Rafał Blechacz zuzuweisen und, Gipfel der Demütigung, den zweiten Platz gar nicht zu besetzen.
Der siebte Warschauer Klavierwettbewerb war angesetzt für die Zeit zwischen dem 22. Februar und dem 13. März 1965. (Der 22. Februar ist der
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