Martha Argerich
der Mazurken wurde vom polnischen Rundfunk an Martha Argerich verliehen. Der Preis für die Beste Aufführung ei-
ner Polonaise ging an Marta Sosi´nska. »Meine Polonaise war mit Sicherheit zu spanisch«, lacht Martha, die die berühmte Polonaise op. 53 , auch genannt die Heroische , gewählt hatte. Vik-
toria Postnikova, die offizielle Kandidatin der sowjetischen Delegation, bekam nur eine »ehrenvolle Erwähnung« – was der beachtlichen Karriere dieser großen Virtuosin (und Ehefrau des Dirigenten Gennadi Roshdestvensky) letztlich keinen Abbruch tat. Als Mitglied der Jury entwickelte sich der bedeutende russische Pianist Yakov Flier zum überzeugten Argerich-Fan und gab ihr – statt seiner Landsmännin, wie es die Gepflogenheiten wollten – die beste Note. Prompt machten ihm die Sowjets daraus einen Vorwurf. Er dürfte bei seiner Rückkehr in die UdSSR dafür geblutet haben, was seiner Begeisterung für Martha jedoch keinen Abbruch tat. Es war in seiner Klasse am Moskauer Konservatorium, dass der Pianist, Dirigent und Komponist Mikhail Pletnev erstmals Bekanntschaft mit dem Namen Argerich machte, denn Flier pflegte unermüdlich seinen Schülern ihre Deutung von Gaspard de la Nuit vorzuspielen.
Wenn man sich Fotos aus der damaligen Zeit anschaut – Martha, wie sie mit sechzehn schüchtern ihren ersten Preis in Genf entgegennimmt, und Martha, die acht Jahre später stolz ihre Warschauer Goldmedaille präsentiert –, fällt der Unterschied sofort ins Auge. Das scheue, von der Meute gehetzte Reh hatte sich in eine stolze Eroberin verwandelt, die mit dem hoch erhobenen Kopf einer Königin und dem selbstbewussten Gang einer Olympiasiegerin einherschreitet. Einer ihrer ersten Anrufe galt Fou Ts’ong: »Bist du immer noch böse?« Vierzehn Tage zuvor hatte er die Freundin aus seiner Wohnung hinausgeworfen, weil sie lieber einer Rachmaninow-Übertragung im Radio gelauscht hatte, statt ihn zu einer Aufführung von Berlioz’ Oper Les Troyens zu begleiten, die von Colin Davis geleitet wurde. »Wenn du so wenig Sinn für die wahren Werte hast, kannst du gleich hier ausziehen!« Und sie war ausgezogen.
Martha Argerich erinnert sich voller Nostalgie an diese Phase in ihrem Leben. Im Publikum saßen echte Klavierfreaks, und die Karten waren bezahlbar. Natürlich war die Atmosphäre in Warschau geladen. Doch heute, bedauert sie, kann kaum jemand mehr die Eintrittspreise bezahlen, und ein Großteil des Saales wird von Reiseveranstaltern befüllt.
Nach der Abschlusszeremonie fragte ein Journalist sie, was sie bei der Verkündung der Ergebnisse empfunden habe. »Ich weiß nicht. Es waren so viele Leute um mich herum, ich wusste gar nicht mehr, was ich denken sollte.« Der starke Druck während der einzelnen Wettbewerbsrunden und die Spannung zwischen den Kandidaten hatten ihre Nerven einer enormen Belastung ausgesetzt. Der Reporter wollte wissen, ob sie sicher gewesen sei, dass sie gewinnen werde. »Absolut nicht! Das war eine wunderbare Überraschung.« Aus ihrer Sicht war das Wahlergebnis sehr knapp, denn nicht wenige Jurymitglieder schienen mehr zu Arthur Moreira tendiert zu haben. Bescheiden wie sie war, glaubte sie, dass ihr Sieg zweifellos der großen Nervosität des brasilianischen Pianisten im Finale zuzuschreiben war.
Einer ihrer Bewunderer, der für die EMI arbeitete, hatte es geschafft, ihr Vertrauen zu gewinnen und ihr das Versprechen einer Aufnahme abzuringen. Das Programm sollte die Stücke beinhalten, die sie für den Chopin-Wettbewerb vorbereitet hatte: das Scherzo Nr. 3 cis-Moll op. 39 , die Sonate Nr. 3 h-Moll op. 58 , die drei Mazurken op. 59 , das Nocturne Nr. 1 op. 15 und die berühmte Heroische Polonaise op. 53 . In seinen Erinnerungen Kann der Partitur lesen? fragte Otto Klemperer erzählt der Musikproduzent Suvi Raj Grubb, der für die Aufnahme zuständig war, von Marthas Ankunft in den legendären Abbey Road Studios: »Als Martha Argerich zum ersten Mal das Studio betrat, fielen mir als Erstes ihre dunklen, leidenschaftlichen Augen auf. Gleich nach ihrer Ankunft fragte sie nach Kaffee. Als ich ihr eine Tasse hinstellte, trank sie diese auf einen Satz aus und verlangte nach mehr. Ich brachte sie samt einer großen Kanne Kaffee ins Studio und ging in die Regie. Zuerst probierte sie den Flügel aus und ließ die Finger beiläufig über die Tasten gleiten. Dann legte sie plötzlich mit Chopins Polonaise op. 53 los. Ich fuhr mit einem langgezogenen ›Jee-sus‹ hoch, der Tonmeister flüsterte nur:
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