Martha Argerich
›Menschenskind!‹« Wie üblich spielte Martha jedes Stück drei Mal, ohne sich um die endgültige Aufnahme zu kümmern. Das Finale der Klaviersonate Nr. 3 wurde in einem Zug aufgenommen. »Die vollen Akkorde klangen gewaltig, die Läufe dazwischen gestochen scharf; die schwierigen Läufe der linken Hand im Trio, einem Paradestück pianistischen Könnens, waren vollkommen gleichmäßig, das Crescendo beherrscht. Ich lugte ins Studio, um mich zu vergewissern, dass diese Klangorgie wirklich von der schmächtigen Frau am Klavier kam. Es war unglaublich.«*
* Suvi Raj Grubb, Kann der Partitur lesen? fragte Otto Klemperer. Erinnerungen eines Musikproduzenten . Deutsch von Wolfram Ströle, Schweizer Verlagshaus, Zürich 1989, S. 65.
Leider sperrte sich die Deutsche Grammophon gegen die Veröffentlichung der EMI -Aufnahme. Solange die Pianistin ihren Vertrag über drei Schallplatten bei der DG nicht erfüllt hatte, blieb sie exklusiv diesem Label verpflichtet. Im Januar 1967 spielte sie schließlich in München auf höchst einfühlsame Weise dasselbe Programm für die deutsche Firma ein. Das Scherzo
Nr. 3 , das sich auch auf ihrer ersten Schallplatte findet, und das Nocturne Nr. 1 op. 15 wurden ersetzt durch die Polonaise-Fantaisie op. 61 . Die Londoner Platte, die bei Martha Argerichs Fans höher im Kurs steht, sollte im Jahr 2000 endlich bei EMI herauskommen. Fünfunddreißig Jahre lang war sie in der Schublade liegen geblieben.
Wer Martha Argerich Chopin spielen hört, erkennt seine große natürliche Eleganz. Leidenschaftliche Ausbrüche werden gefiltert von einem raffinierten Gespür für Ästhetik, das nichts Forciertes oder Aufgesetztes besitzt. Mit ihrem reinen, klaren Spiel lässt sie den ganzen polyphonen Hintergrund erklingen, den Chopin von Bach übernommen hat, und sein chromatisches Komponieren in einer direkten Linie zu Mozart erstrahlen. Maria
Callas, die ebenfalls instinktiv den Stil eines jeden Komponisten zu erfassen wusste, sagte einmal: »Alles in allem sollte man Mozart wie Verdi singen.« Auf gewisse Weise spielt Martha
Argerich Bach wie Chopin, ohne jene schwerfällige philologische Orthodoxie, die naiverweise als »authentisch« bezeichnet wird, sondern mit einer intuitiven Intelligenz, die viel kostbarer ist. So wie der Dirigent Emmanuel Krivine es treffend beschrieb: »Martha Argerich weiß nichts, und doch weiß sie alles.« Gewiss, es ist vor allem die ihrer Musik innewohnende vitale Kraft (die unter »reines Virtuosengeklimper« abzuqualifizieren ihr massiv Unrecht täte), die ihr Publikum so berührt. Übrigens hat auf die Frage, warum Martha Argerich immer so schnell spiele, der alte Vlado Perlemuter, selbst ein begnadeter Chopin-Interpret, stets geantwortet: »Weil sie es kann.« Die windzerzauste Romantik, die sie den Préludes oder den Sonaten eingibt, scheint so viel gerechtfertigter als eine solide klassische Herangehensweise an jede Phrase. Ihr Rubato verrät ihre eigenen Seelenzustände, ohne dass der Notentext dabei überstrapaziert würde, und das Klavier singt von ganz allein.
Das Werk Chopins zu interpretieren ist insofern eine besondere Herausforderung, als seine Expressivität so stark ist, dass sie jeden empfindsamen Pianisten zu Exzessen verführt – eine Gefahr, der nur einige wenige Auserwählte von erlesenem Feingefühl entgehen. Maurizio Pollini glaubt, dass die Schwierigkeit der Interpretation seines Werkes vor allem in der paradoxen und fast schon teuflischen Mischung aus einer bis an die Grenze des Wahnsinns heranreichenden Fantasie und einem sehr klaren Stil besteht. Alfred Brendel, der sich nur sehr sporadisch mit Chopin beschäftigt hatte, bevor er sich vorsichtshalber ganz von ihm verabschiedete, glaubt, dass sich an ihn nur echte Spezialisten heranwagen sollten. So gesehen müsste sich Martha Argerich dem großen Frédéric eigentlich exklusiv verschreiben, wiewohl sie Beziehungen dieser Art prinzipiell ablehnt. Doch sie fühlt sich auch unwiderstehlich zu ihm hingezogen: »Er ist meine unmögliche Liebe«, erklärt sie. Wenn sie innerhalb eines Konzertprogramms Chopins Préludes und Liszts h-Moll-Sonate spielt, hat sie oft das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt: Ist sie mit ihrer Darbietung des einen Werkes zufrieden, verläuft die des anderen fast schon zwangsläufig enttäuschend für sie. »Chopin ist eben sehr eifersüchtig« lautet ihr Fazit. Doch die Pianistin weiß auch, dass ein Chopin-Stück im Rahmen eines Recitals immer ein einzigartiges
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