Martha Argerich
Klangereignis ist und beim Publikum sofort Seufzer des Entzückens auslöst.
London
Große Lieben
Nach ihrem Triumph beim Warschauer Klavierwettbewerb nahm Martha Argerich ganz allmählich ihre internationale Karriere wieder auf. Im Januar 1966 debütierte sie in New York mit einem Recital, das vor allem Chopin-Werke enthielt, aber auch die Sonate Nr. 7 von Prokofjew und Schumanns Fantasie C-Dur . Zweimal fuhr sie in jener Zeit für ein Gastspiel nach London, wobei sie sich besonders freute, dort ihren Freund Fou Ts’ong wiedertreffen zu können. Gegen Ende des Jahres ließ sie sich in einer Art Musikerpension namens Landa Music Club nieder, in der auch Nelson Freire, Stephen Kovacevich, Rafael Orozco, Julius Katchen, Dora Bakopoulos und andere wohnten. Ein glückseliges Nest voller Virtuosen, die dort in einer vergnüglichen musikalischen Promiskuität aufeinandertrafen. Wenn einer von ihnen sich beispielsweise dazu entschied, das Klavierkonzert Nr. 2 von Bartók einzuüben, waren sofort alle anderen auf dem Laufenden. Ein einziges Telefon stand im Flur, und derjenige, der zufällig vorbeikam, nahm den Hörer ab und brüllte lauthals den Namen des Gesuchten durchs Treppenhaus.
Diese Pension wurde von einer gewissen Mrs. Armstrong geführt, einer recht exzentrischen Dame. Eines Abends besuchte Stephen Kovacevich sie in ihren Räumlichkeiten, um ihr ein Problem mit dem Haus vorzutragen. Er fand sie mitten im Zimmer hockend, einen Regenschirm aufgespannt über sich haltend, weil das Dach undicht war und Wasser von der Decke
hinuntertropfte.
Die Pianisten verbrachten viel Zeit miteinander, besuchten gegenseitig ihre Konzerte und unterstützten sich in ihren stark schwankenden Karrieren. Der Spanier Rafael Orozco hatte gerade den Wettbewerb in Leeds gewonnen und machte sich mit den Klavierkonzerten von Rachmaninow langsam einen Namen. Später sollte er Opfer eines unseriösen Agenten werden und sich dadurch beinahe seine Karriere ruinieren. Allein der Beharrlichkeit Juanita Argerichs war es zu verdanken, dass die Verantwortlichen in den großen internationalen Konzertbetrieben sich dazu herabließen, ihm erneut eine Chance zu geben. Und dann raffte die Immunschwächekrankheit Aids diesen wunderbaren Ausnahmekünstler im Alter von nur fünfzig Jahren dahin …
Julius Katchen war der Doyen der Gruppe. Dieser große amerikanische Pianist spielte für Decca eine außergewöhnliche Gesamtaufnahme von Brahms ein, die noch heute Maßstäbe setzt. Von allen geliebt, hatte er gegen eine heimtückische Krebs-
erkrankung anzukämpfen. »Ich habe nicht mehr viel Zeit. Ich muss unbedingt diese Platte fertig machen«, sagte er immer wieder zu seinen Freunden und Kollegen. Es handelte sich um Ravels Klavierkonzert G-Dur , zusammen mit dem London Symphony Orchestra unter Leitung von István Kertész. Katchen starb drei Jahre später im Alter von zweiundvierzig Jahren in Paris, der Stadt seines Durchbruchs.
Die Pianistin Dora Bakopoulos kannte Martha bereits seit ihren Salzburger Tagen, denn sie gehörte zu der kleinen Studentenclique, die in die Stadt an der Salzach gekommen war, um mit Friedrich Gulda zu arbeiten. Die beiden Frauen fühlten eine große Solidarität zueinander. Dora beobachtete die professionelle Entwicklung Marthas voller Neugierde. »Wenn sie Hunger hat, isst sie. Wenn sie keinen Hunger hat, isst sie nicht. Am Klavier ist das ganz genauso.«
Die Argentinierin hatte gerade ihr »Debüt« mit den New Yorker Philharmonikern unter Leonard Bernstein abgesagt. Nicht nur, dass sie damit ihre Karriere in den Vereinigten Staaten ernsthaft gefährdete, sie hatte noch dazu große finanzielle Einbußen hinzunehmen. Damals unterschrieb Martha ihre Verträge noch vor jedem Konzert; im Falle einer Absage musste sie ein medizinisches Attest vorlegen oder ein Bußgeld bezahlen. Später bereitete sie dieser für sie ungünstigen Situation ein Ende, indem sie sich weigerte, selbst das unwichtigste Dokument zu unterschreiben, bevor sie nicht einen Fuß auf die Bühne gesetzt hatte. Dieses außergewöhnliche Privileg wurde ihr nie streitig gemacht. Ihre New Yorker Absage war rein künstlerisch motiviert: Sie fühlte sich einfach noch nicht vertraut genug mit dem für das Programm vorgesehenen Klavierkonzert Nr. 1 von Prokofjew – ein Stück, das sie später mit unvergleichlichem Brio darbieten sollte. Ihre Mitbewohner aus dem Landa Music Club hatten ver-
sucht, sie davon zu überzeugen, dass sie ein solch wichtiges Engagement
Weitere Kostenlose Bücher