Martha Argerich
nicht einfach annullieren konnte. Sie sparten nicht mit Anerkennung über die gelungenen Passagen, die sie durch die Zimmerwände hindurch gehört hätten. Doch die Argentinierin blieb hart. Am Ende übernahm Leonard Bernstein höchstpersönlich den Solopart, indem er sein Orchester via Augenkontakt dirigierte. Das Konzert war ein solcher Erfolg, dass er der flatterhaften Verursacherin seines Doppelauftritts nicht lange böse sein konnte.
Dass Martha Argerich nach London zog, lag nicht zuletzt daran, dass sie das Bedürfnis hatte, der Schweiz den Rücken zu kehren, wo ihr das Zusammensein mit ihrer Tochter verwehrt war und ihre Mutter ihr die Luft zum Atmen nahm. Eine Gemeinschaft aus Freunden und Kollegen um sich zu scharen war eine Art Ideal für die Pianistin, die das Leben als Paar genauso fürchtete wie die Einsamkeit. »Besser eine schlechte Gesellschaft als gar keine«, scherzte sie gern. Ihre Beziehung zu Stephen Kovacevich spielte sich allerdings auf einem anderen Niveau ab.
Dieser Künstler der allerersten Garde wurde im kalifornischen San Pedro als Sohn eines kroatischen Vaters und einer amerikanischen Mutter geboren. Zu Beginn seiner Karriere nannte er sich Stephen Bishop, weil seine Mutter wieder geheiratet hatte. Später, als er sich zu seinen europäischen Wurzeln bekennen wollte, nahm er den Namen Bishop Kovacevich an, bevor er sich endgültig für seine jetzige Identität entschied.
Das erste Mal, das Martha mit ihm zusammentraf, war kurz nach ihrer Ankunft in London. Fou Ts’ong nahm sie mit in die Queen Elizabeth Hall, wo Stephen das Klavierkonzert Nr. 4 von Beethoven aufführte. Sie war sehr angetan von seiner Darbietung. Hatte sie deshalb das Gefühl, einen Freund aus Kinder-
tagen wiederzutreffen, weil sie in ihrer Jugend so beeindruckt von diesem Werk gewesen war?
Auch für Stephen Kovacevich, der in dieser Zeit eine schwierige Phase durchlebte, weil seine Lehrerin Myra Hess gerade gestorben war, hatte das Stück eine große Bedeutung. Um mit ihr zu arbeiten, hatte sich der junge Mann, der im Alter von elf Jahren in San Francisco sein Debüt gegeben hatte, dafür entschieden, den Atlantik zu überqueren, statt seinen Unterricht in New York fortzusetzen. Sie war diejenige, die ihm die Welt Beethovens erschlossen hatte, nachdem er sich zunächst ausschließlich dem großen romantischen Repertoire des neunzehnten Jahrhunderts verpflichtet gefühlt hatte. Hatte er dieses Konzert in Erinnerung daran gewählt, dass Myra Hess selbst den Grundstein ihrer Karriere 1907 mit ebenjenem Klavierkonzert Nr. 4 unter Leitung von Sir Thomas Beecham in London gelegt hatte?
In der Musik gibt es keine Zufälle, nur Koinzidenzen, die auf gemeinsame Vorlieben hinweisen und die Musikerfamilien größer werden lassen. Martha war zutiefst berührt von ihrer Begegnung mit Kovacevich, der an Chopins Todestag (17. Oktober) auf die Welt gekommen war, hatte sie sich doch erst mehrere Monate mit diesem Komponisten intensiv auseinandergesetzt. Sie waren gleich alt (fünfundzwanzig Jahre), kamen vom selben Kontinent (Amerika), hatten beide kroatische Wurzeln (die
Heimat seiner Familie befindet sich nur wenige Kilometer entfernt vom Dorf Argeric). Und er war Waage! Martha hatte schon immer eine Schwäche für Pianisten gehabt, die unter diesem Sternzeichen geboren waren. Ihrer Meinung nach haben sie etwas, das andere nicht haben. Wenn man sie sich so anschaut – Franz Liszt, Alfred Cortot, Vladimir Horowitz, Glenn Gould, Emil Gilels, Nelson Freire, Ivo Pogorelich, Evgeny Kissin: bella collezione!
Im selben Jahr, 1966, spielte Martha Chopins Klavierkonzert
Nr. 1 und Prokofjews Klavierkonzert Nr. 3 in der Royal Albert Hall. Kovacevich kam seinerseits, sie zu hören, und ihre Freundschaft vertiefte sich, ohne jedoch einen ausschließlichen Charakter anzunehmen. Martha den Hof zu machen ist das beste Mittel, sie in die Flucht zu schlagen. Schon als junges Mäd-
chen brachte jeder eindeutige Annäherungsversuch sie fürchterlich in Verlegenheit. Sie störte daran die mangelnde Natürlichkeit und fehlende Spontaneität. Ihre ersten Rendezvous mit Stephen Kovacevich bestanden aus langen Gesprächen, unterbrochen von zahlreichen Lachanfällen. Die Musik nahm einen wichtigen Platz ein in dieser Liebe, die sich zu ihrem Namen nicht recht bekennen wollte. Für Stephen Kovacevich war vor allem der gemeinsame Abscheu gegenüber jeglicher Form von Heuchelei und Kriecherei das verbindende Moment. Diese beiden ebenso unbeugsamen wie
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