Martha Argerich
geradlinigen Pianisten hatten das Gefühl, ihre jeweils andere Hälfte gefunden zu haben. Martha erzählte ihm stundenlang von Guldas Antikonformismus. Stephen schwelgte in Erinnerungen an Myra Hess, die während des Zweiten Weltkriegs großen Mut bewiesen hatte, indem sie trotz der Kriegsgefahren zur Mittagszeit in der National Gallery Konzerte organisierte, um die Moral der Bevölkerung zu stärken und ihr in schwierigen Zeiten einen Moment der Hoffnung zu schenken.
Beethoven war oft Thema ihrer leidenschaftlichen Auseinandersetzungen. Kovacevich hatte mit einundzwanzig Jahren bei seinem ersten Auftritt in der Wigmore Hall die Diabelli-Variationen gespielt. Heute zählt er zu den bedeutendsten Interpreten dieses Werkes. In seiner Gesamteinspielung der Beethoven-Sonaten, die er bei EMI herausbrachte, liefert sein intensives, fein-
herbes und visionäres Spiel ein lebhaftes und in jeder Hinsicht widersprüchliches Bild jener Kompositionen. »Zwischen Beethoven und mir«, sagt er, »gibt es nichts Platonisches!« Die beiden jungen Leute hörten begeistert die Plattenaufnahmen von Rachmaninow und Horowitz. Er riet ihr, Ravels Klavierkonzert für die linke Hand und Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 einzustudieren. »Wenn ich Gott wäre, würde ich dich dazu zwingen, diese Werke zu spielen! Sie sind für dich geschrieben worden.« Martha hat Ravels Klavierkonzert für die linke Hand gegenüber dem Klavierkonzert G-Dur immer bevorzugt, doch dachte sie vielleicht, es gebe zu viel von ihrer Seele preis.
Sie war tief beeindruckt zu erfahren, dass Stephen Kovacevich mit Horowitz zusammengearbeitet hatte. Er hatte ihn in seiner New Yorker Wohnung aufgesucht, um ihm die Sonate Nr. 28 op. 101 von Beethoven vorzuspielen. Nachdem der Maestro ihn freundlich gebeten hatte, sich ans Klavier zu begeben, war der junge Mann so überwältigt von seinen Gefühlen, dass er nicht einen einzigen Ton hervorbrachte. Ohne großes
Federlesen nahm daraufhin Horowitz selbst auf dem Klavierschemel Platz und spielte ihm das Werk auswendig vor. Kovacevich hörte ihm voller Bewunderung zu, doch konnte er es sich aus einer Art Schamgefühl heraus bei einer besonders schwierigen Oktavenpassage nicht verkneifen, seinen Blick kaum merklich vom Klavier abzuwenden. Horowitz, der diese Regung bemerkt hatte, hörte auf zu spielen und sagte mit einem schalkhaften Lächeln: »Sie haben recht, diese Stelle probiert man lieber gar nicht erst.«
Eines schönen Tages wurden Stephen und Martha ein Paar. Es war der Beginn ihrer ersten großen Liebe und zweifellos der wichtigsten ihres Lebens. Kein anderer Mann sollte sich ihr mehr in einer solchen Aufrichtigkeit öffnen wie Stephen Kovacevich. Doch nach und nach wurde, so Martha, diese absolute Vertrautheit zu einem Problem für ihre Liebe. Sie wussten alles voneinander – dabei braucht die Leidenschaft doch das Rätselhafte, um bestehen zu bleiben. Der Fehler lag nicht zuletzt bei Martha, die, kaum dass sie sich für jemanden interessierte, ihr Gegenüber mit einer schier unglaublichen Energie so lange en détail erforschte, bis sie sein Innerstes nach außen gestülpt und selbst sein letztes Geheimnis ergründet hatte. »Es gab keine Polarität zwischen uns, wir haben denselben Raum besetzt. Das ist nicht wirklich gut für die Liebe«, sagt sie heute.
Trotz ihrer zahlreichen Gemeinsamkeiten hatten die beiden Künstler sehr unterschiedliche Rhythmen. Er arbeitete acht Stunden lang am Tag wie ein Galeerensträfling, während sie tagsüber schlief und sich nachts die Zeit mit Freunden vertrieb, wobei sie ihr Instrument nur dann anfasste, wenn es sich gar nicht mehr vermeiden ließ. Für den einen war dies nur schwer zu akzeptieren, während die andere langfristig unter ihrem schlechten Gewissen zu leiden begann. Die Beziehung zerbrach Anfang 1969. Martha hatte in Rom Ravels Klavierkonzert G-Dur unter Claudio Abbado gespielt sowie Beethovens Opus 101 und Debussys Estampes in Venedig. Als sie zurückkehrte, war es vorbei. Doch ihre Freundschaft blieb bestehen.
Im Mai desselben Jahres heiratete Martha den Dirigenten Charles Dutoit. Stephen Kovacevich war trotz der pikanten Situation zu den Hochzeitsfeierlichkeiten eingeladen. Das Hin und Her ihrer Beziehung erinnert an den Claude-Sautet-Film César und Rosalie , in dem Romy Schneider sich nicht zwischen ihrem erfolgsverwöhnten Lebensgefährten (Yves Montand), der sie besitzt, und ihrer charismatischen Jugendliebe (Sami Frey), der sie beherrscht, entscheiden
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