Martha Argerich
ließ ihre Besucher eine gute Stunde warten, bevor sie endlich zu ihnen stieß. Martha versuchte sich in der Sprache Pessoas, aber ihre Kollegin verstand kein Wort von diesem Kauderwelsch. Nelson musste also vom »Portuganischen« ins Portugiesische übersetzen. Neugierig, wie Guiomar Novaës war, wollte sie via Nelson von Martha wissen: »Welche Pianisten mag sie besonders?« Martha erwiderte: »Horowitz, Rachmaninow …« Nelson, der sich des verminten Terrains sehr wohl bewusst war, wiederholte nervös: »Horowitz, Rachmaninow …« Martha, die nett sein wollte, fügte sogleich hinzu: »Sag ihr … sie auch.« Nelson hob an zu übersetzen, aber Guiomar, deren Misstrauen sofort geweckt war, hatte schon verstanden. »Hat sie mich im Konzert gehört?« Nelson, der die Antwort kannte, murmelte entschuldigend: »Nein, nur auf Platte …« Guiomar unterbrach ihn mit einer Geste der Verachtung: »Das zählt nicht!«
Tausende von gemeinsamen Erinnerungen reihen sich aneinander. Sie hören gern zusammen Konzerte im Radio und machen sich einen Heidenspaß daraus zu erraten, ob es sich bei dem Interpreten um einen Mann oder eine Frau handelt. Sie schimpft manchmal mit ihm, weil er in Sachen Repertoire weniger wagemutig geworden ist. »Wir spielen immer dieselben Sachen!«
Brahms ist eines der großen Themen, bei denen sie nicht einer Meinung sind. Nelson Freire vergöttert diesen Komponisten, weil er überzeugt ist, die 2 Rhapsodien hätten ihn im Alter von sechzehn Jahren in Brasilien gerettet, als er keine einzige Note mehr hatte spielen wollen. Marthas Enthusiasmus hält sich da weit mehr in Grenzen. Brahms’ Musik löst rein gar nichts in ihr aus. Vielleicht findet sie Brahms mit seinen behutsamen Entwicklungen einfach zu weitschweifig, während Schumann für sie in einem einzigen Aufleuchten das Wesentliche sagt. Wie so oft versteckt sie sich auch hier hinter der Meinung anderer: »Für meinen Geschmack ist er ganz in Ordnung – aber Gulda, der mag ihn überhaupt nicht!« Der Ausspruch von Paul Dukas bringt sie zum Lachen: »Brahms? Zu viel Bauch, zu viel Bier.« Vielleicht ist sie ja auch so zurückhaltend in Sachen Brahms, weil sie Nelson gern provoziert. Der behauptet kategorisch: »Sie liebt ihn, aber sie weiß es nicht.«
Auf gewisse Weise stimmt das sogar. Unbewusst schätzt die unter dem Schumann-Stern Geborene es vielleicht, das zarte Einvernehmen zwischen Schumann und Brahms in einer Art Rollenspiel mit ihrem Freund Nelson nachzuempfinden. Die Freundschaft, die Martha mit Nelson verbindet, ist einzig-
artig und dauert nunmehr schon über fünfzig Jahre an. Sie ist die Sonne ihrer beider Leben, aber auch ein Wunder innerhalb der Welt der Musik. Nelson Freire ist wahrscheinlich der Mensch, der Marthas musikalische und persönliche Geheimnisse am besten kennt. Und weil er von absoluter Diskretion ist, wird das Mysterium Argerich auch niemals ganz enthüllt werden.
Genf
Chaostage
In den Achtzigerjahren mietete Martha – aus einer tief empfundenen Ablehnung gegenüber jeder Form von Besitzstand heraus – ein altes Waisenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert in der Avenue Jules-Crosnier Nr. 6 in Genf. Die Haustür war nie verschlossen. Weil es im Haus sowieso ständig von Menschen wimmelte, konnte jeder eintreten, der wollte, auf einem der vier Flügel herumklimpern, sich im Kühlschrank bedienen, mit den beiden Töchtern spielen und umringt von den zahlreichen Katzen im Wohnzimmer ein Nickerchen halten. Am ersten Tag dachten noch alle, man sei von irgendjemandem als Besuch mitgebracht worden, doch schon am nächsten Tag wurde man als ständiger Bewohner behandelt und gebeten, den Mülleimer rauszutragen oder Stéphanie von der Schule abzuholen. Die meisten der ständigen Bewohner der Avenue Jules-Crosnier Nr. 6 waren offene und interessante Leute, aber man konnte dort auch durchaus Verrückte antreffen, Gauner oder Opportunisten, die nicht notwendigerweise die Unsympathischsten waren. Liebeleien und Streitigkeiten zwischen den einen und den anderen nährten den Familienklatsch.
Das Haus befand sich in einem unglaublich heruntergekommenen und schmutzigen Zustand. Dadigna, eine freundliche Portugiesin, deren Sohn ein Spielkamerad von Stéphanie war, kümmerte sich um den Haushalt, allerdings war es bei dem ewigen Kommen und Gehen schlicht unmöglich, mehr als das gröbste Chaos zu beseitigen – nicht zuletzt wegen der über zwanzig Katzen, die sich ständig miteinander kabbelten, in allen Ecken des Hauses
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