Martha Argerich
schliefen, scharenweise Junge kriegten und ihre Notdurft dort verrichteten, wo es ihnen gerade passte. Das Zimmer der »Hausherrin« (auch wenn dieser Ausdruck die Realität nur unzureichend widerspiegelt) wurde spätestens in dem Moment das unordentlichste im ganzen Haus, wenn sie von einer Reise zurückkehrte.
Um ihren Alltag bewältigen zu können, hatte Martha sich Baptiste, auch Baba genannt, an ihre Seite geholt: einen Freund, der sich um die Mädchen kümmerte, ein wenig Klavier spielte, ein wenig kochte, Dinge organisierte und ihr als Gesprächspartner diente. Er nutzte seine privilegierte Position nie aus, indem er die anderen seine Autorität spüren ließ, sondern begnügte sich damit, das gemeinsame Leben mithilfe seiner Intuition und Sensibilität so harmonisch wie möglich zu gestalten. Wenn er ans Telefon ging, wusste er instinktiv, ob er den Anruf an Martha weitergeben sollte oder nicht, so empfänglich war er für ihre Stimmungen.
Für Kinder war dieses Leben schlicht ein Traum. Nichts war verboten, alles erlaubt. Die unglaublichsten Leute gaben sich die Türklinke in die Hand. Einmal, als Annie Geburtstag hatte, gab der Pianist Nicolas Economou ein improvisiertes Konzert mit Beatles-Songs auf dem Klavier. In der Woche darauf übte der Cellist Mischa Maisky die ganze Nacht mit Martha zusammen Schuberts Arpeggione und César Francks Sonate A-Dur , während Stéphanie ihre Mutter unter dem Flügel an den Füßen kitzelte, bevor sie irgendwann todmüde darüber einschlief. Wenn Martha auf Tournee gehen musste, um Ravels Klavierkonzert G-Dur in Boston oder Liszts Klavierkonzert Nr. 1 in München zu spielen, versteckte Stéphanie, die nicht von zuhause weg oder verhindern wollte, dass ihre Mutter verreiste, einfach Marthas Pass. Manchmal sagte Martha auch: »Wenn Stéphanie bleibt, bleibe ich auch.«
Sie hatte ein äußerst inniges Verhältnis zu ihrer jüngsten Tochter, die zum einen das Kind ihrer großen Liebe war, aber ihr zum anderen auch ermöglichte, endlich ihre Mutterrolle voll auszuleben. »Ich musste lange üben, bis ich so weit war«, nimmt Martha es mit Humor. Lyda war zu einem ungünstigen Zeitpunkt auf die Welt gekommen, und dann hatte Juanita alles verdorben. Beim zweiten Kind hatte Charles Dutoit in seinem Bemühen, Martha um jeden Preis zum Konzertieren anzuhalten, verhindert, dass sie Annie gegenüber mütterliche Gefühle hätte entwickeln können. Erst bei Stéphanie hatte die Pianistin endlich die Chance, frei und selbstständig zu handeln, ihre Fehler wiedergutzumachen und die verlorene Zeit aufzuholen. Doch in ihrem Bestreben, nicht erneut als Mutter zu versagen, vergötterte sie ihre dritte Tochter dermaßen, dass die Beziehung fast obsessive Züge annahm – bis hin zu dem Punkt, dass Annie und später auch Lyda sich ausgeschlossen fühlten. Trotz allem sind die drei Schwestern stets eine Einheit und enge Freundinnen geblieben.
Als Martha Mutter wurde, war das für sie noch lange kein Grund, sich zu ändern. Um die Dinge beim Namen zu nennen: Sie hat ihre Kinder nicht gewollt – aber als sie dann da waren, hat sie sie bereitwillig in ihr Leben integriert. Fern davon, ihre Töchter als Weiterführung ihrer selbst zu betrachten, wollte sie die Mädchen als eigenständige Persönlichkeiten lieben lernen. Ihrer Meinung nach würden sie sich am besten in einer Umgebung entfalten können, die aus lauter sehr verschiedenen Bezugspersonen bestand, vielleicht ähnlich wie in einem israelischen Kibbuz. Außerstande, ihr eigenes Leben und ihre Karriere zu steuern, unternahm Martha nicht einmal den Versuch, ihren Kindern gegenüber als Autoritätsperson aufzutreten. Durch diesen Mangel an Struktur zutiefst verunsichert, stürzte sich Annie mit einem außergewöhnlichen Enthusiasmus aufs Lernen, denn die Schule stellte für sie einen Ort mit präzisen Regeln und festen Uhrzeiten dar. Martha, die glücklich war, sich auf ihre starke Persönlichkeit stützen zu können, überließ Annie zu einem Gutteil die Erziehung ihrer jüngeren Schwester Stéphanie, indem sie die Ältere mit lästigen pädagogischen Aufgaben betraute, statt zuzulassen, dass sich auf spielerische Weise zwischen den beiden Mädchen eine Beziehung entwickelte. »Stéphanie ist, wenn man so will, meine Frau. Und Annie mein Mann«, rechtfertigte sie sich, virtuose Volten schlagend. Annie wechselte ihrer Schwester die Windeln, brachte ihr das Lesen bei und schrieb ihr Entschuldigungen für die Schule, wenn Martha ihr
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