Martha Argerich
Nesthäkchen wieder einmal mit auf Tournee nahm. Annie war außerdem die Vertraute ihrer Mutter, die sie wie eine Erwachsene behandelte. Wenn sie mit einer Sechs in Biologie nach Hause kam, hörte Martha ihr nur mit halbem Ohr zu und beglückwünschte sie anschließend mit einem »Bravo!«. Das Mädchen, das viel lieber eine Gardinenpredigt vernommen hätte, machte sie darauf aufmerksam, dass es sich bei einer Sechs um die schlechtestmögliche Note handelte. Martha, die sofort Gewissensbisse bekam, nahm sie in die Arme, um sie zu trösten. »Lass doch die Schule einfach mal für eine Weile Schule sein! Willst du nicht lieber mit mir nach Japan kommen?« Manchmal rief Annie mitten in der Nacht bei ihrer Mutter an, um ihr zu sagen, dass sie erst später nach Hause kommen werde, doch Martha hatte nicht einmal bemerkt, dass sie gar nicht da gewesen war. Aber trotz dieses offensichtlichen Chaos’ blieb alles mehr oder weniger unter Kontrolle, und die Mädchen wurden mit größtmöglicher Aufmerksamkeit bedacht.
Eines schönen Tages tauchte Lyda in der Avenue Jules-Crosnier auf. Sie war siebzehn Jahre alt – und ihre Mutter war eine vollkommen Fremde für sie. Lyda hatte die Unterlagen ihres Vaters durchstöbert, um Marthas Adresse ausfindig zu machen. Überwältigt von diesem Wiedersehen, bat die Pianistin ihre Tochter um Verzeihung. »Aber wofür«, erwiderte das junge Mädchen, »du hast mir doch das Leben geschenkt!« Lyda, fasziniert von dem Zigeunerleben, das ihre Mutter führte und das in krassem Gegensatz zu dem stand, was sie bisher kennengelernt hatte, integrierte sich sofort in die Gemeinschaft. Ohne Wissen ihres Vaters kam sie nun häufig ihre neue Familie besuchen und blieb auch manchmal über Nacht. Sie war sehr erstaunt zu erfahren, dass ihre Schwestern kein Musikinstrument spielten. Martha hatte es nie von ihnen verlangt. Stéphanie hatte zwar angefangen, Klavierstunden zu nehmen, aber es schnell wieder aufgegeben. Und Annie bedauerte, dass sie nicht mit mehr Nachdruck zum Cellospielen angehalten worden war. Ihre Mutter hatte – offenbar mal wieder auf der Suche nach einem »Talentitis«-Opfer – beschlossen, dass ihre eigentliche Gabe im Zeichnen liege.
Lyda selbst hatte auf der Bratsche ein beträchtliches Niveau erreicht. Ihr Vater hatte gesagt: »Deine beiden Eltern sind Musiker – du musst diese Sprache einfach verstehen lernen! Ich gebe nicht eher Ruhe, als bis du in der Lage bist, mit Anstand die zweite Geige in einem Streichquartett zu spielen.« Nachdem sie im Anschluss an ihr Geigenstudium zur Bratsche übergewechselt war, hatte ihr Vater begeistert ausgerufen: »Perfekt! Dann kannst du ja jetzt vier verschiedene Partien in den Quintetten von Mozart spielen!«
Lyda ging auch für eine Zeit nach Paris, weil sie ihre Großmutter kennenlernen wollte. Juanita fand, dass sie wie eine Schauspielerin aussehe, und stellte sie verschiedenen Filmproduzenten vor. Doch als Lyda erklärte, sich überhaupt nicht für die Filmbranche zu interessieren, wurde sie wütend: »Für wen hältst du dich? Für die Königin von Saba?« Die schlimmste Beleidigung für Juanita war, wenn man sie nicht brauchte.
Martha empfand das Leben in Genf als ziemlich langweilig und wenig stimulierend, obwohl sie glückliche Erinnerungen mit der Stadt verbanden. Ihre wiederholten Umzüge hatten sie verschiedene Viertel erkunden lassen: Route de Chêne, Rue Toepffer, Boulevard des Philosophes, Avenue Jules-Crosnier, Rue Théodore-Weber, Avenue des Vergys … Immerhin fühlten sich ihre Töchter wohl in Genf, das war ein positiver Aspekt. Was sie in ihrer Rolle als Künstlerin betraf, glaubte Martha, dass der Wohnort keine Rolle spielte. Hauptsache, man hatte Freunde um sich herum und konnte mit ihnen neue Projekte entwickeln. Nach wie vor kleidete sich Martha wie ein Teenager, dem es egal war, was er am Leibe trug: eine Jeans und eine indische Bluse, Hauptsache, nichts Damenhaftes. Wenn ihre auf dem Wühltisch gekauften Kleidungsstücke verknittert waren, so störte sie das nicht, im Gegenteil, sie fand es absurd, wenn jemand auf die Idee kam, sie bügeln zu wollen. Ringe an den Händen lösten nur Verachtung bei ihr aus, und jede Art von wertvollerem Schmuck erschien ihr als etwas Perverses.
1982 gab Martha Argerich ihre letzten Solorecitals in der Schweiz und in Italien. Ihre Programme bestanden aus Werken, die sie schon lange begleiteten, wie die Toccata c-Moll von Bach, Gaspard de la Nuit von Ravel, die bewährten Stücke
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