Martha Argerich
vom Chopin-Wettbewerb und ein paar Neuheiten in ihrem Repertoire wie Schumanns Kreisleriana oder die Sonate Nr. 7 von Prokofjew. Schon seit einiger Zeit versuchte sie ihre Angst vor dem Alleinsein auf der Bühne dadurch in den Griff zu bekommen, dass sie gemischte Programme gab, in denen sie zwei Solostücke spielte und dazwischen eines zusammen mit Nelson Freire und Mischa Maisky. Aber ihre Freunde hatten nicht immer Zeit, ihren Terminwünschen nachzukommen. Am 22. April 1983 nahm sie in München – eindeutig die Stadt der Abschiede für sie! – die letzte Solo- CD ihrer Karriere auf, mit Schumanns Kreisleriana und Kinderszenen . Sie war einundvierzig Jahre alt und wollte sich nicht mehr dem Druck aussetzen, Recitals geben zu müssen. »Ich will keine Maschine sein, die Klavier spielt«, erklärte sie der argentinischen Zeitung La Nación im September 1986. »Ein Solist lebt alleine, spielt alleine, isst alleine, schläft alleine. Das ist nichts für mich.« Es blieben ihr ihre geliebten Klavierkonzerte und das unerschöpfliche Repertoire der Kammermusik.
Zu jener Zeit war Martha sehr gegen den Betrieb eingestellt. Ständig schimpfte sie über die faulen Tricks der Agenten, über die korrupten Musikproduzenten und die Plattenfirmen, die unmenschliche Dinge von den Künstlern verlangten. Sie liebäugelte mit der Idee, sich mit Kollegen zusammenzutun, um gemeinsam gegen diese Mafia anzugehen, die Künstler wie Schachfiguren behandelte. Viel Zeit und Energie gingen in diesen Überlegungen auf, doch am Ende sollte sich ihre Utopie in den Festivals von Beppu und Lugano tatsächlich konkretisieren.
1983 lernte sie Michel Béroff kennen, obwohl sie sich geschworen hatte, nach der schmerzhaften Trennung von Stephen Kovacevich niemandem mehr Platz in ihrem Leben einzuräumen. »Ich glaube, ich bin für die Liebe nicht geeignet«: Wie ein Refrain
tauchte jener Ausspruch in den fünf Jahren ihres Junggesellinnendaseins regelmäßig auf. Die Männer wollten sie am Ende immer ändern oder sie beherrschen, und das konnte nur schief-
gehen. Oder aber sie stellten sie auf ein Podest und vergaßen, dass sie eine Frau aus Fleisch und Blut war. »Sie füttern mich mit Kaviar, während sie mir mein tägliches Brot vorenthalten.«
Michel Béroff kam nach ihrem Genfer Auftritt mit Chopins Klavierkonzert Nr. 1 unter Leitung von Kazimierz Kord zu ihr in die Garderobe, um ihr seine Verehrung auszusprechen. Dem französischen Pianisten zufolge war das Konzert einfach unglaublich gewesen, »mit zahlreichen Rubati, ohne je an Leidenschaft zu verlieren«. Der Abend wurde im Restaurant fortgesetzt, bis tief in die Nacht. Wie immer war Martha dem Fremden gegenüber zunächst distanziert und begann erst nach und nach sich wohlzufühlen. Béroff verfiel ihrem Charme, so angetan war er von ihrer Ausstrahlung und Authentizität.
Er begann sie regelmäßig anzurufen – womit er gleich ihr Misstrauen erregte. »Was will der Typ von mir?« Eines schönen Tages gestand er ihr seine Liebe. Martha war skeptisch. Für sie hatten Liebesbeteuerungen nur im Kino ihre Berechtigung und selbst da nicht immer. Außerdem war der Altersunterschied zwischen ihnen sehr groß: Er war erst zweiunddreißig Jahre alt, ein Knabe! Sie war zehn Jahre älter als er. Aber Béroff sah gut aus, war ein begnadeter Pianist, und ihre Töchter mochten ihn. Also zog er in die Avenue Jules-Crosnier ein. Der Franzose war im siebten Himmel. Er war sich des Risikos nicht bewusst, das er einging, indem er sich mit einer so starken Persönlichkeit, einem so einzigartigen Talent zusammentat, er war einfach nur glücklich, in ein und demselben Menschen eine Freundin, Geliebte und Mutter gefunden zu haben, jemanden, der in jeglicher Hinsicht außergewöhnlich war.
Geboren im lothringischen Épinal, ist Michel Béroff in der französischen Klaviertradition ein echtes Phänomen. Mit zehn Jahren spielte er bereits Auszüge aus Olivier Messiaens Vingt Regards sur l’Enfant-Jésus , einem sehr virtuosen und überschwänglichen Werk, dessen Noten seine Mutter ihm zu Weihnachten geschenkt hatte. Der Komponist, dem dies zu Ohren gekommen war, lud den Jungen zu sich nach Hause ein, um ihn spielen zu hören, und war erstaunt, mit wie viel Geschick diese kleinen Hände die überaus schwierigen Akkorde seiner Partitur bewältigten. Mit achtzehn Jahren gab der Pianist den kompletten
Zyklus (zwei Stunden!) im Théâtre des Champs-Élysées. Dank seines breiten Repertoires mit Stücken vorzugsweise
Weitere Kostenlose Bücher