Martha im Gepaeck
Gegenzug kann ja Karen mal gucken, ob sie ein paar neue Wildlederstiefel in Edinburgh bekommt. Und einen Föhn.«
Einen Moment lang herrschte Schweigen, das lediglich von einem schabenden Geräusch unterbrochen wurde. Es kam von Teresa, die mit ihren kleinen Händen zärtlich über das ramponierte Holzgesicht strich. Dann presste sie ihren Mund auf den Bauch der Meerjungfrau; Mark hielt den Moment für alle Ewigkeit mit der Kamera fest.
Karens Widerstand begann zu bröckeln. Die Kinder waren offenbar ganz fasziniert von dem Ding. Weil es nicht im Reiseführer geplant und vorgeschrieben war.
»Also gut«, sagte Martha da. »Aber ihr glaubt es mir ja sowieso nicht. Dann heißt es wieder, die alte Martha ist senil.«
»Aber das würden wir doch nie denken«, log Karen. Sie spürte, dass ihre Ohren rot anliefen.
»Nie«, murmelte Bernd und sah dabei auf seine Schuhe.
Martha seufzte. »Das Geschenk ist für Rob Roy.«
»Rob Roy? Du meinst diesen schottischen Robin Hood?« Bernds linkes Auge begann zu zucken. Gleich würde er unkontrolliert loslachen. Karen sah schnell weg. Nur zu gut erinnerte sie sich an diesen Hollywood-Film, bei dem sie heiße Tränen vergossen hatte, weil es da um wahre Liebe ging. Liebe, die offenbar nur in den rauen Bergen des historischen Schottlands und nicht in kastenförmigen Vierzimmerwohnungen der Neuzeit zu finden war. In einem Schottland, wo Frauen sofort nach dem Aufstehen gut aussahen, obwohl ihnen nur Quellwasser zur Verfügung stand und sie sich komplett vitaminfrei von Haferbrei und Hammelfleisch ernährten. Einer dieser Filme, bei denen Bernd an den unpassendsten Stellen lachte und die Karen deprimierten, weil niemand sie jemals hochheben und durch eine blühende Heide tragen würde. Dafür war sie mittlerweile ohnehin viel zu schwer. Und für diesen Rob Roy sollte die Meerjungfrau sein?
»Rob Roy ist doch schon ewig tot«, bemerkte sie daher. »Willst du das Ding an sein Grab stellen?«
»Das ist meine Sache. Ihr wolltet nur wissen, für wen es ist, und das habe ich euch mitgeteilt.« Martha zupfte ihren Rock zurecht und griff nach Marks Arm. »Nicht wahr, mein Junge?« Mark grinste verlegen, ließ die alte Frau aber gewähren. Neben seinem braungebrannten Jungenkörper wirkte Martha wie eine zerbrechliche alte Puppe.
Karen sah sich unauffällig um. Die Frau aus der Bäckerei war jetzt beschäftigt, die Straße menschenleer. Wenn sie die Figur einfach hier stehen ließen, würde es vermutlich nicht gleich jemandem auffallen.
Zumindest wollte Karen nicht so schnell klein beigeben. Sonst würde Martha ihnen die ganze Zeit auf der Nase herumtanzen. Sie versuchte es erneut. »Also, Martha, so geht das nicht. Nun sag uns endlich, was du wirklich vorhast. Ich meine, wir sind doch alle erwachsene Menschen, da kann man doch ruhig offen miteinander sein.«
»Ach ja?« Martha blinzelte listig. »Seid ihr das? Offen miteinander?«
»Natürlich!« Karen nestelte an ihrer Halskette herum. »Wie kommst du darauf, dass wir es nicht sind?«
Leider bekam sie darauf keine Antwort.
Denn in diesem Moment fiel Martha um.
7 »Oh, mein Gott!« Karen ließ augenblicklich ihre Handtasche fallen, die sie eben noch kampfeslustig hin und her geschwenkt hatte, und sank auf die Knie. »Martha? Martha, hörst du mich?« Sie griff nach dem Handgelenk der alten Frau, um ihren Puls zu fühlen.
»Ist Tante Martha tot, weil ihr so böse zu ihr wart?« Teresas Unterlippe fing an zu zittern.
»Ich kann ihren Puls spüren«, sagte Karen.
»Martha? Hörst du uns?« Bernd kniete sich ebenfalls hin, wobei sich ein spitzer Stein in sein Knie bohrte. Er fluchte leise.
Karen beachtete ihn nicht. Was, wenn Martha jetzt hier auf diesem englischen Dorfanger starb? Was um alles in der Welt sollte sie dann tun? Gestresst griff sie nach Marthas schlaffer Hand und drückte sie. Tränen stiegen ihr in die Augen und verschleierten ihre Sicht. »Martha?«
»Tante Martha, bist du müde?«, hörte sie Teresa fragen.
»Geht schon, mein Kind«, erklang Marthas heisere Stimme.
Karen atmete auf. Martha lebte und konnte reden!
»Bist du in Ordnung? Willst du ein Glas Wasser?« Karen beugte sich über Martha und stopfte ihr die Handtasche als Kissen unter den Kopf. Die alte Frau hatte die Augen geschlossen, atmete aber gleichmäßig und nickte. Gott sei Dank! Sie hatten Martha total überfordert. Eine Schnapsidee war das, eine alte Frau wie sie mit auf so eine weite Reise zu nehmen. »Hol doch der Tante Martha bitte mal
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