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Martha im Gepaeck

Martha im Gepaeck

Titel: Martha im Gepaeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Herwig
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einigen Häusern gingen die Fenster auf, Leute sahen hinaus, Passanten blieben stehen, jemand pfiff, ein Auto hupte dreimal kurz. Fand hier eine Art englische Kirmes statt?
    »Was ist das?«, fragte Karen leise. »Was tragen die da?«
    »Ist das ein Mensch?« Bernd kniff die Augen zusammen.
    »Ich glaube, ja.« Karen war sich sicher, dass sie eben einen Kopf und Haare gesehen hatte. Oder? »Nein. Kein Mensch.« Sie trat einen Schritt nach vorn. Natürlich nicht. Karen schüttelte unwillkürlich den Kopf. Warum sollte Mark auch einen Menschen auf seinen Schultern tragen? »Das ist … Was schleppen die denn da?«
    »Mama«, erklang jetzt Teresas aufgeregte Stimme. »Wir haben was ganz Schönes!«
    »Ach?«, gelang es Karen zu sagen. Denn jetzt war die Gruppe nahe genug herangekommen, dass sie und Bernd erkennen konnten, was für ein unglaubliches Ding die drei in ihrer unbeaufsichtigten Zeit aufgetrieben hatten: eine hölzerne, grobschlächtige Meerjungfrau mit fehlenden Armen, üppigen Brüsten und einem schneckenhausartig verschlungenen Fischschwanz. Leere Augenhöhlen starrten Karen aus einem von Holzwurmstichen zerfressenen Gesicht an, dem der Zahn der Zeit die halbe Oberlippe abgeknabbert hatte. Die Figur war nur unwesentlich kleiner als Karen selbst und, wie es aussah, mindestens doppelt so schwer.
    »Das ist Arielle, die Meerjungfrau«, sagte Teresa. »Hat Tante Martha auf dem Flohmarkt gefunden. Ist sie nicht wunder-wunderschön?«

6 Karen fing sich als Erste. »Meerjungfrau«, wiederholte sie und streckte hilflos ihre Hand nach dem hölzernen Koloss aus.
    »Eine Meerjungfrau?« Bernd lachte ungläubig. »Davon habe ich aber ganz andere Vorstellungen.«
    »Die gehört Tante Martha. Aber ich darf auch damit spielen. Ich darf sie nur nicht kaputtmachen.« Teresa streichelte den Fischschwanz.
    »Nicht kaputtmachen?« Karen betrachtete die verstümmelten Lippen der Figur. Sie schienen sich zu einem spöttischen Grinsen zu verzerren, je länger sie daraufblickte. »Das ist ja wohl kaum noch möglich.«
    »Mensch, ist das ein schweres Teil.« Mark stemmte die Figur vorsichtig nach unten und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Hier gab es keinerlei Schatten, nur Häuser im Cottage-Look, deren weiß getünchte Mauern die gnadenlose Sonneneinstrahlung noch zu verdoppeln schienen.
    »Jeremy«, rief eine Frauenstimme von weitem. Der kleine Pulk von Kindern begann sich aufzulösen. » Goodbye, mermaid! «, rief ein Mädchen.
    » Goodbye! « Martha winkte fröhlich zurück. »Danke, mein Lieber«, wandte sie sich an Mark. Erst dann schien sie Karens und Bernds versteinerte Gesichter zu bemerken. »Nun guckt nicht so kariert. Was die Leute heutzutage alles wegschmeißen, ist unglaublich. Keinen Respekt mehr. Immer nur alles neu aus China kaufen. Und sich dann wundern, wenn es nach drei Tagen nicht mehr funktioniert. Die Meerjungfrau ist aus gutem Holz. Die kann man noch verwenden.«
    »Wozu denn verwenden?«, fragte Karen. »Als Feuerholz?«
    »Das ist eine Antiquität.« Martha sah leicht gekränkt aus.
    Karen presste die Fingernägel in ihre Handballen, bis sie schmerzten. Da hatten sie den Salat. Alte Leute und ihre Sucht, alles tausendfach zu verwenden, nichts wegzuschmeißen, Schnäppchen zu ergattern und irgendwelchen alten Trödel zu sammeln. Wahrscheinlich handelte es sich bei Marthas ominösem Erbe um einen Schuppen voller Hausrat aus den sechziger Jahren. Kaputte Mixer, Koffer mit Aufklebern von der Riviera, Schallplattenhüllen von Mireille Mathieu und so weiter. Vor zwei Wochen erst hatte sie bei Martha eine seltsame braune Männerweste im Schrank entdeckt, von der sich Martha partout nicht trennen wollte. Uralt und mit Lederschlaufen. Und kariertem Innenfutter. Bei der Erinnerung daran wurde es Karen auf einmal siedend heiß. Kariert. Auch Teil der schottischen Obsession? Martha war und blieb unberechenbar. Die Meerjungfrau hatte irgendwie auch etwas Unberechenbares an sich, allerdings definitiv nichts Schottisches. Eher etwas von mumifiziertem Stammeshäuptling. Karen berührte das rissige Holz. »Martha, du willst sie mitnehmen, verstehe ich das richtig? Du willst dieses modrige alte Ding in unserem Auto transportieren?«
    »Sie ist schön, Mama. Du bist gemein!« Teresa stampfte mit dem Fuß auf.
    Karen ignorierte sie. Wandte sich an Bernd, der ihr hier wie der einzige normale Mensch vorkam. »Ich konnte meinen Föhn und meine Wildlederstiefel nicht mitnehmen, um Platz zu sparen, und Martha will, dass

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