Martha im Gepaeck
was zu trinken«, sagte sie zu Mark. Der rannte sofort los, in Richtung Bäckerei.
»Nein, geh doch gleich zum Arzt hier«, rief Karen ihm hinterher. Die Praxis von Dr. Collins war schließlich direkt nebenan, und was immer man von dessen ärztlichen Fähigkeiten halten mochte, so würde er doch sicher wenigstens ein Glas Wasser zu bieten haben. Oder einen Humpen. »Dann kann der gleich mal nach Martha sehen.«
Diese Worte hatten einen belebenden Effekt auf die alte Frau. Sie rappelte sich hoch und setzte sich hin. »Ich brauch keinen Arzt«, murmelte sie. »Nur ein bisschen Schatten. Gebt mir meinen Schirm.«
»Aber, Martha, du bist ohnmächtig geworden. Dein Kreislauf hat versagt. Findest du nicht, dass ein Arzt nach dir sehen sollte?« Karen reichte ihr den Schirm. Mark stand immer noch unschlüssig auf der Straße, trippelte mal ein paar Schritte nach rechts in Richtung Bäckerei, dann wieder nach links in Richtung Dr. Collins. »Wohin denn nun?«, rief er.
»Ich brauch keinen Arzt«, wiederholte Martha störrisch. »Nur ein Glas Wasser. Und so ein süßes Teilchen von dort.« Sie zeigte mit der Schirmspitze auf die Bäckerei. Dort türmten sich neben herzhaftem Gebäck kleine Törtchen mit Früchten, Eclairs, Scones und Teekuchen mit glasierten Kirschen. Mark setzte sich in Bewegung.
»Also, ich weiß nicht …« Karen presste Martha ihre Hand auf die Stirn. Sie war trocken und warm. »Vielleicht hast du ja einen Sonnenstich bekommen?«
»Quatsch. Ich hatte noch nie einen Sonnenstich.«
»Aber du bist nicht mehr die Jüngste, in deinem Alter …«
»In meinem Alter braucht man vor allem eine Familie, die einen nicht für verrückt erklärt, nur weil man ein kleines Geschenk für jemanden besorgt hat.« Tante Martha legte sich wieder hin. Karen blickte kurz zu Bernd. Der zuckte ratlos mit den Schultern. Teresa hielt den aufgespannten Schirm über Martha und fächelte ihr Luft zu. Martha und die Meerjungfrau lagen wie zwei sonnenbadende alte Freundinnen nebeneinander auf dem Rasen – die eine blass und fast durchsichtig, die andere dunkelbraun und furchterregend wie ein Terrakotta-Krieger.
Mark kam mit einer Wasserflasche und einer Papiertüte in der Hand zurück. »Hier«, sagte er und reichte Martha beides.
Zwei stämmige Frauen in bunten Sommerkleidern durchpflügten auf ihren Fahrrädern das Dorf. » Good afternoon! «, riefen sie ihnen zu und winkten fröhlich, offenbar in der Annahme, dass hier ein sommerliches Picknick stattfand. Martha seufzte.
Karen räusperte sich. »Nun, an mir soll es nicht scheitern.« Sie berührte die Figur leicht mit der Fußspitze. »Dann nehmen wir das Ding eben mit. Wenn es dich glücklich macht. Im Kofferraum ist bestimmt noch Platz. Und du kannst sie ja dann verschenken, an … also …« Sie brach ab. Den Namen »Rob Roy« brachte sie nun doch nicht über die Lippen. Aber wenn es nun einmal Marthas Herzenswunsch war, dieses holzige Gebilde nach Schottland zu schaffen, dann wollte sie sich nicht dagegen sperren. Vielleicht erfüllten sie der alten Dame damit ihren letzten Wunsch, wer vermochte das schon zu sagen? Es konnte mit ihr ja jederzeit zu Ende gehen, das hatte Karen eben selbst gesehen. Und außerdem brachte ihr die Meerjungfrau ein paar neue Wildlederstiefel ein.
»Ich will euch ja auch keine Umstände machen«, kam es schwach von Martha zurück. Sie biss in ein kleines Rosinenbrötchen.
»Aber gar nicht«, sagte Karen. Am besten schwarz, nicht wieder braun. Kniehoch und bequem, mit nicht zu hohem Absatz. Nicht solche nuttigen Dinger, wie Bettina sie sich gekauft hatte. »Pornotreter« hatte Mike sie verächtlich genannt. Er hatte eben Geschmack.
»Wirklich, ihr habt doch schon genug Gepäck.«
»Ach, gar nicht«, echote Bernd.
»Das geht schon«, sagte Karen. Sie konnte gar nicht anders. Irgendwie schmolz mit jeder Sekunde dieser Reise ein Stück ihres Gehirns weg. Es war, als ob eine unsichtbare Person sie dauernd vom Weg abbrachte.
»Na, wenn ihr unbedingt wollt«, sagte Martha. Auf seltsame Weise hatte sie es geschafft, dass Bernd und Karen jetzt praktisch darum bettelten, die Figur mitnehmen zu dürfen. Mit großem Appetit schob sie sich das letzte Stück Gebäck in den Mund. Ein ungewöhnlicher Appetit, so fand Karen, für jemanden, der gerade in Ohnmacht gefallen war. Ihr selbst war dies nur einmal in ihrem Leben passiert, als sie sich beim 2000 -Meter-Lauf total verausgabt hatte, nur um Frank Eschner aus ihrer Schulklasse zu imponieren,
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