Martha im Gepaeck
House stand jetzt nicht mehr die Schwester von Dr. Collins, sondern eine andere, ältere Frau mit Spitzenbluse und stahlgrauen Haarwellen.
Sie schien ausgesprochen überrascht zu sein, die Thiemes zu erblicken.
» Yes? «, fragte sie verwundert, weil, wie sich alsbald herausstellte, das gesamte Woodland House komplett ausgebucht war. Wegen der Hochzeit. Die Frau zwinkerte verschwörerisch. Tatsächlich lief eine auffällige Anzahl von Leuten in Anzügen und Kostümen herum. Die Männer mit Blumen im Knopfloch, die Frauen mit Kunstkirschen und -blumen auf den Hüten. Ein Grüppchen kichernder Brautjungfern trippelte gerade vorsichtig vorbei; rosa Tüll bauschte sich an ihren Hüften wie Zuckerwatte.
»Es gibt kein einziges Zimmer mehr?« Karen zerquetschte fassungslos den unschuldigen Kugelschreiber auf dem Rezeptionstresen, bis er fast in zwei Teile zerbrach. Wirklich kein einziges Zimmer? Vielleicht hatte sie ja doch etwas falsch verstanden? Wo blieb denn jetzt Bernd mit seinem wundervollen Englisch? Er hielt sich vornehm zurück und betrachtete mit scheinbar großem Interesse eine Schale mit lila Potpourri.
»Wirklich?«, fragte Karen erneut. Aber die Antwort der eisernen Rezeptionslady blieb immer dieselbe. Wegen dieser Hochzeit war nichts zu machen. Wer auch immer heute hier heiratete – Karen hasste ihn von tiefstem Herzen.
»Unsere Tante ist krank«, versuchte Karen es auf die mitleidige Tour. Sie schob die widerwillige Martha ein Stück näher an die Rezeption heran. »Sie ist über achtzig.«
»Das musst du doch nicht jedem erzählen«, beschwerte Martha sich leise. »Ich schreie ja auch nicht in die Welt hinaus, dass du bald fünfzig wirst.«
»Martha, ich bin erst dreiundvierzig. Das ist ja wohl ein Unterschied. Und du bist über achtzig, was ist da so schlimm dran?«
»Was da so schlimm dran ist? Meinst du das ernst? Ich finde es genauso schmeichelhaft wie du, für ein paar Jahre jünger gehalten zu werden. Oder glaubst du, sobald man über achtzig ist, sollte man nur noch Nachthemden tragen?«
»Martha …«
»In diesen albernen grauen Hosen siehst du zum Beispiel aus wie fünfzig. Das habe ich dir schon mal gesagt, aber du hörst ja nicht zu. Du könntest weiß Gott mehr aus dir machen.«
Die Frau an der Rezeption verfolgte verwirrt das rätselhafte Gezische der beiden Deutschen, gab es schließlich auf und zog stattdessen nur die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. Das plüschige Innenleben des Woodland House blieb ihnen verwehrt. Doch plötzlich hellte sich das Gesicht der Dame auf. »Krank, sagten Sie?« Sie sprach jetzt extra langsam und laut. »Jetzt, wo Sie es erwähnen … Unser Dr. Collins aus dem Dorf vermietet ab und zu ein paar Zimmer in seinem Haus. Ein ganz netter Mensch! Sie kommen aus Deutschland, nicht wahr? Dann wird er Ihnen gerne helfen. Wissen Sie, er hat ein Faible für Ihr Land und auch so eine Sammlung von Trinkbechern und würde …«
»Nein, danke!«, sagten Karen und Bernd wie aus einem Munde.
Die Frau kräuselte beleidigt die Lippen. »Dann bleibt nur noch das Motel«, sagte sie spitz. »Das Autobahn Inn . Da ist bestimmt Platz.« Ihr geringschätziger Ton machte die Frage überflüssig, warum dort garantiert noch Platz war.
»Das Autobahn Inn «, wiederholte Karen fragend. »Wo finden wir das?«
»An der Autobahn.« Die Frau lächelte, selbst überrascht über ihren unerwarteten Humorausbruch.
»Sie meint, wie wir dahin kommen.« Martha zog ein Erfrischungstuch heraus. Karen sah fasziniert zu, wie sie sich sorgfältig damit Hals und Hände abtupfte. Wie viele von diesen Dingern hatte sie in ihrer Handtasche mitgeschleppt? Bislang hatte Karen angenommen, dass die Tücher einem rein antiseptischen Zweck dienten, jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Martha parfümierte sich damit ein, das war es. Sie wollte gut aussehen. Jünger. Auf den Gedanken, dass Martha so etwas noch wichtig sein könnte, wäre Karen bis eben nie im Leben gekommen – aber warum eigentlich nicht? Trotz Ohnmacht und Hitze sah Martha aus wie aus dem Ei gepellt. Keine Laufmasche, keine Fusseln, keine Flecken. Im Gegensatz zu Karen. Plötzlich kam sie sich selbst total staubig, plump und ungepflegt vor. Sie musste unbedingt duschen und vor allem so schnell wie möglich aus diesen schrecklichen Hosen raus. Martha hatte recht. Sie sah darin aus wie fünfzig. Kein Wunder, dass Mike sie nur als Kumpel sah. Als alten Kumpel.
Eine Frau im violetten Kostüm kam die Treppe
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