Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Martha im Gepaeck

Martha im Gepaeck

Titel: Martha im Gepaeck Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Herwig
Vom Netzwerk:
der im Übrigen keinerlei Notiz von ihr genommen hatte. Die schmachvolle Erinnerung daran, wie sie mit feuerrotem Kopf vor den Augen der gesamten Klasse auf ihre Turnschuhe gekotzt hatte, hatte sie jahrelang bis in ihre Träume verfolgt. Aber eins wusste sie noch ganz genau: Ihr war damals wahnsinnig übel gewesen. Um nichts in der Welt hätte sie ein Rosinenbrötchen essen wollen.
    »Dann darf die Meerjungfrau mit?« Teresa hüpfte aufgeregt von einem Bein aufs andere.
    »Natürlich«, beeilte sich Karen zu sagen.
    »Natürlich«, sagte auch Martha und streichelte Teresas Hand. Und da, in diesem kurzen Moment, hätte Karen schwören können, dass Martha ihrer Tochter triumphierend zuzwinkerte.
    Die Meerjungfrau passte nicht in den Kofferraum. Man konnte sie drehen und wenden, wie man wollte, sie war einfach zu lang. Man hätte ihr glatt den Kopf abschlagen müssen. Aber angesichts der Tatsache, dass der Van ohnehin erst am Abend fertig sein würde, trat dieses Problem in den Hintergrund. Viel dringlicher war jetzt herauszufinden, was die Leute in der Autowerkstatt ihnen mitteilen wollten.
    »Was hat er gesagt?«, fragte Karen gerade. »Ich verstehe den so schlecht. Hier ist es so laut.« Eigentlich hätte sie auch bei Friedhofsstille nichts von dem verstanden, was der nuschelnde, tätowierte Mechaniker von sich gab, aber das konnte sie ja schlecht zugeben.
    Bernd runzelte die Stirn. »Irgendwas mit einem Teil. Ein Teil fehlt. Aber welches Teil das ist, das hat er nicht erwähnt.«
    Oder du hast es auch nicht kapiert, dachte Karen. Garantiert hast du es nicht kapiert, auch wenn du die ganze Zeit fachmännisch genickt hast. Sie wandte sich wieder an den Angestellten, der rauchend ein Stück weiter weg neben Martha und den Kindern stand. »Können wir diese …«, Karen suchte nach einem passenden Wort, fand aber keins und nahm daher das Erstbeste, »… diese Dame im Auto lassen?« Sie deutete auf die Meerjungfrau, die entspannt am Heck lehnte. Der Mechaniker zuckte gleichgültig mit den Schultern. Was die Touristen in ihren Autos transportierten, war ihm so was von egal. Hauptsache, sie bezahlten.
    »Gut.« Karen öffnete die hintere Autotür, und Bernd schob die Figur mit Marks Hilfe auf die letzte Sitzreihe. Im Liegen nahm sie den gesamten Platz ein, also zogen und zerrten sie so lange an ihr herum, bis sie aufrecht stand und ihr Holzgesicht von innen an die Scheibe presste. Es machte den Eindruck, als hätten sie ein ungezogenes Familienmitglied weggesperrt.
    »Jetzt ist sie traurig und ganz alleine«, stellte Teresa bekümmert fest.
    »Wir kommen ja bald wieder«, sagte Martha. »Wenn der Kühler aus der anderen Werkstatt geliefert worden ist.«
    Bernd und Karen fuhren herum. »Du hast den Mann verstanden? Warum hast du nichts gesagt?«
    »Ihr habt mich ja nicht gefragt. Woher soll ich denn wissen, dass ihr ihn nicht verstanden habt?«
    »Also, ich habe ihn verstanden«, behauptete Bernd. »Nur eben nicht, welches Teil er genau gemeint hat.«
    Aber sicher doch. Nur weil Bernd sämtliche Hits von U 2 mitgrölen konnte, war sein Englisch natürlich von höchstem Niveau. Karen sah auf die Uhr. Es war mittlerweile fast halb zwei, alle hatten wahnsinnigen Hunger und sie selbst keine Kraft mehr für linguistische Streitereien. Außerdem roch es hier drin schwindelerregend nach heißem Metall, Plastik, Farbe und Benzin.
    »Ist ja auch egal«, sagte Bernd da überraschend versöhnlich. Marthas Schwächeanfall hatte sie alle milde gestimmt, obwohl Karen den nagenden Verdacht nicht loswurde, dass dabei nicht alles mit rechten Dingen zugegangen war. Wie gierig sich Martha das Rosinenbrötchen in den Mund gestopft hatte …
    »Und was machen wir bis um sechs?«, fragte Martha.
    »Bis um sechs«, wiederholte Karen tonlos. Natürlich. Daran hatte sie überhaupt noch nicht gedacht. Wenn das Auto erst um sechs fertig sein würde, mussten sie noch eine Nacht hierbleiben. Sie sah Bernd fragend an.
    »Zurück zum Woodland House , ein neues Zimmer buchen«, sagte der mit dem Enthusiasmus eines ausgestopften Tieres.
    Karen stöhnte innerlich auf. Die herrliche Kühle Schottlands, Edinburghs glitzernde Shoppingmeile, die Highlander-Massage, die violett schimmernde Heide und die eiskalten Gebirgsbäche – eben noch fast in greifbarer Nähe – mussten warten. Es war zum Verrücktwerden.
    »Mann«, maulte Mark. Er kickte einen Stein weg. »Nur wegen diesem gemeingefährlichen Motherfucker von Reh!«

8 An der Rezeption des Woodland

Weitere Kostenlose Bücher