Martha's Kinder
physischen Zauber verscheucht hatte, in dessen Bann sich Sylvia zum Bräutigam hingezogen gefühlt, schwand auch bald alle seelische Liebesempfindung; denn, ernüchtert, gewahrte sie nun in voller Deutlichkeit die Mängel seines Wesens; was ihr früher nur für kurze Augenblicke an die Nerven gegangen, das wurde ihr allmählich beständig widerwärtig. Und da sie diese Empfindungen nicht zu verbergen wußte, da sie Freundlichkeit nicht heucheln konnte, wenn sie sich geärgert und abgestoßen fühlte, so erweckte ihr Benehmen bei Delnitzky das weitere zornige Urteil: »O, das launenhafte, mürrische, zuwid're Ding!«
Zu einer Aussprache der stillen Beschwerden, zu gegenseitigen Vorwürfen kam es nicht. Es stellte sich nur eine wachsende Gleichgültigkeit ein. Der Verkehr wurde immer matter und kühler; die Gespräche immer kürzer und sachlicher – ein paar Zärtlichkeitsausdrücke und Kosenamen, die noch aus der Brautzeit stammten, wurden immer seltener angewendet, bis sie ganz ausstarben, und jeder Tag, statt die beiden immer näher und immer näher zu bringen – wie dies in Tillings und Marthas liebesgebenedeiter Ehe gewesen – jeder Tag brachte ein größeres Stück der Entfernung, der Entfremdung zwischen sie.
Im ersten Jahr war ihnen ein Kind geboren Worden. Aber auch die Mutterfreuden blieben der jungen Frau versagt. Unter furchtbaren Schmerzen und unter Lebensgefahr hatte sie das Kind zur Welt gebracht und vier Monate später mußte sie es in qualvollen Konvulsionen sterben sehen.
Sie wünschte sich kein zweites. Einsam fühlte sie sich nicht. Ihr Herz war mit der Liebe zur Mutter und zu Rudolf gerade so ausgefüllt wie zu ihrer Mädchenzeit – eher noch mehr. Ihre Anteilnahme an den Bestrebungen und Ideen des Bruders war noch gewachsen, auch der Mutter hatte sie sich inniger angeschlossen als je. Aus ihren ehelichen Enttäuschungen machte sie dieser ihrer besten Freundin gegenüber kein Geheimnis, aber sie teilte sich mit, ohne dabei in Klagen auszubrechen. Glücklich war sie freilich nicht – aber auch nicht unglücklich. Das große Los hatte sie nicht gezogen in der Heiratslotterie – aber die Niete machte sie nicht zur Bettlerin. Die Selbstvorwürfe, mit welchen Martha sich quälte, suchte sie zu verscheuchen; sie lud alle Schuld auf sich, auf ihre eigensinnige Verblendung – nichts, nicht einmal die mütterliche Autorität, hatte sie von ihrem, durch närrische Verliebtheit befestigten Entschluß abbringen können – und dafür war sie jetzt gestraft. Aber was weiter? Gibt es nicht Tausende von Frauen, die früher oder später mit ihren Männern auch in solches Stadium gegenseitiger Gleichgültigkeit geraten? Und unzählige Mädchen, die gar nicht heiraten und dabei doch Genuß am Leben finden? Übrigens – so philosophierte sie weiter – ist denn auch Genuß und ungetrübtes Glück etwas, worauf jeder berechtigten Anspruch erheben dürfe? Warum sollte gerade ihr ein Paradies erschlossen werden, wo so viele auf Erden ein Fegefeuer, gar manche sogar eine Hölle finden? Man muß sich bescheiden mit dem, was man hat; und wahrlich, sie hatte gar viel: eine herrliche Mutter, einen teuren Bruder, geistige Mitwirkung an den Lebensaufgaben dieser beiden – dazu Gesundheit, Reichtum, Rang. – »Nein, nein, Mutter, bedauere mich nicht!« So wußte sie Martha stets zu trösten, wenn diese über die zu rasche Einwilligung in die Heirat ihrer Tochter in Selbstanklagen ausbrach.
Als Sylvia die Schriftzüge auf der Adresse des Berliner Briefes erkannte, erblaßte sie.
»Von wem denn?« fragte Anton über seine Zeitung hinüber. Er las den Sportbericht im »Neuen Wiener Tagblatt«.
»Von Hugo Bresser ... er will auf kurze Zeit hierherkommen ... Das wird seinen Vater freuen –«
»Du, sag' mir: ist euer Hausfreund, der alte Bresser, nicht etwa ein getaufter Jud'?«
»Mag sein – ich weiß nicht.«
»Also vielleicht gar ungetauft?«
»Das sicher nicht – aber warum fragst Du? Was wäre denn weiter?«
»O, ich mag die Juden nicht – es wird auch von Tag zu Tag unfairer mit Juden zu verkehren.« »Das auch noch!« seufzte Sylvia im Innern. Es war ihr nichts widerwärtiger, als der in der Gesellschaft und in der Wiener Kleinbürgerschaft überhandnehmende Antisemitismus. Laut sagte sie nur:
»Pater Protus denkt da viel weitherziger.«
»Ach, der! Der ist auch so ein Liberaler ... Na ja, ich bin ja auch kein bigotter Duckmäuser ... aber wenn ich schon Priester wäre, so würde ich auch zu den
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