Martha's Kinder
sondern verkettete Gefühle, aneinander gereihte, ineinander verschlungene Bewußtseinsphasen.
Eben war die Table d'hôte, an der er niemals teilnahm, zu Ende, und ein Trupp von Hotelgästen kam aus dem auf die Terrasse mündenden Speisesaal herausgeflutet. Die meisten ließen sich in einer – dem Platze, wo Rudolf saß, gegenüberliegenden glasbedeckten Veranda nieder und ließen sich dort schwarzen Kaffee und Liköre servieren. Eine große amerikanische Gesellschaft war darunter, meist junge Leute beiderlei Geschlechts, und unter diesen ging es ziemlich lustig und lärmend zu. Aus der offenen Tür des Salons drang glänzendes Klavierspiel herüber – offenbar war es ein Künstler, der sich ans Instrument gesetzt. Alles das unterbrach Rudolfs Meditationen, riß ihn aus seiner Vorstellungswelt heraus. Hier war ein Stückchen wirkliche Welt, ein Stückchen lebendige Gegenwart, im Gegensatz zu seinen Zukunftsträumen, das heißt zu seinen Kampfplänen um eine bessere Zukunft. Die Leute da schienen die gegenwärtige Stunde gut zu finden und kein besseres morgen zu ersehnen. – – Waren sie nicht vielleicht die Klügeren? Ihrer war die Wirklichkeit, in dieser fanden sie sich zurecht, in ihr hatten sie sich's wohlig und bequem gemacht ... Alle Pläne und Kämpfe der Unzufriedenen gehen doch nur dahin, eine Zukunft zu schaffen, in der Leute leben werden – andere Leute als die, welche heute die Erde bevölkern – und für die jene ferne Zeit wieder eine Gegenwart sein wird, in der sie es sich bequem machen sollen. – –
Rudolf stand auf. Der Platz war ihm zu lärmend und zu belebt geworden; er wollte seine Gedanken in der Einsamkeit weiter denken. Wenn sein Sinn nach dem großen Ziele: »für die Menschheit wirken« gerichtet war, so störte ihn nichts so sehr darin, als der Anblick vieler Menschen. Nur in wenigen Exemplaren oder in der Abstraktion vermochte er die Menschheit zu lieben; wo er eine Menge versammelt sah, fühlte er sich durch vieles angewidert und abgestoßen: durch die Mehrzahl der häßlichen Gesichter, der unebenmäßigen Gestalten, die kreischenden Stimmen, die kleinliche Geschäftigkeit, die blöde Unbekümmertheit, die schale Geschwätzigkeit: – verdiente es diese Menge, daß man ihretwegen sich sorgte und sich opferte? ... Aber es genügte ihm, von den Leuten wegzuschauen, um wieder in der Vorstellung den Gesamtbegiiff Menschheit und die Bilder einzelner herrlicher Menschenkinder wachzurufen, und damit zugleich den Wunsch, die Massen von Unglück und Elend befreit zu sehen und den einzelnen – auch sich selber – ein immer höher und schöner entfaltetes Leben zu erobern.
»Graf Dotzky!« rief plötzlich eine bekannte Frauenstimme.
Rudolf blickte auf. Gräfin Ranegg und ihre Tochter Cajetane standen vor ihm.
»Oh – meine Damen, welche Überraschung!« rief er. Alle abstrakten Gedanken und Bilder waren verflogen; die wirkliche Welt, seine Welt, war mit einem Male wieder vor ihm aufgetaucht.
»Ich bin nicht überrascht, Sie hier zu treffen«, sagte die Gräfin. »Durch Ihre Mutter wußte ich, daß Sie in Bern sind.«
»Und Sie?« ...
»Wir machen eine kleine Tournee durch die Schweiz ... heute früh sind wir hier angekommen und wollen heute wieder weiterfahren. Sie bleiben wohl noch längere Zeit fort von zu Hause? ... Sie haben ja recht ... ach, es war so schrecklich –«
Gräfin Ranegg hatte Dotzky seit seinem Verluste nicht gesehen und sie legte jetzt in ihren Ton das ganze scheue Beileidsgefühl, das einen überkommt, wenn man Menschen begegnet, die man zuletzt glücklich gesehen und die unterdessen von einem schweren Schlag betroffen worden.
Cajetane, die stumm blieb, drückte das gleiche Gefühl in Blick und Miene aus. Ihre schönen schwarzen Augen waren voll und traurig auf Dotzky gerichtet, – so traurig, daß es beinahe wie zärtlich war. Der junge Mann empfand diesen Blick, als wäre er ein mildes Streicheln. Er hatte Cajetane immer nur heiter gesehen, voll des harmlosesten jugendlichen Frohsinns – und dieser völlig neue Hauch des Schmerzes auf ihren Zügen ließ sie ihm noch schöner erscheinen als sonst.
Ihre letzten Worte hatte Gräfin Ranegg mit einem Händedruck begleitet und darauf reichte auch Cajetane die Hand hin, um mit dieser Gebärde und innigem Druck zu bekräftigen, was ihre Augen sprachen.
Rudolf war sich bewußt, daß die beiden Frauen sein Unglück für größer hielten, als er es empfand; sie glaubten wohl, daß er verloren hatte, was sein
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