Martha's Kinder
Höchstes und Einzigstes war, daß jetzt kein anderer Gedanke ihn erfüllte, als der an seine Beraubung.
Die drei ließen sich nun an dem Tischchen nieder, an dem Rudolf vorhin gesessen hatte. Gräfin Ranegg sprach in teilnahmsvollem Tone weiter über das Ereignis, über den Schrecken, den ihr die Nachricht verursacht und fragte um Einzelheiten. Da sie aber bemerkte, daß Rudolf nur einsilbig und widerstrebend Antwort gab, so wendete sie das Gespräch auf andere Dinge und erzählte von sich und den Ihren:
Schloß Ranegg war augenblicklich verwaist. Christine, die inzwischen geheiratet hatte, war mit ihrem Mann, einem Gesandtschaftsattaché, gegenwärtig in Konstantinopel; die Zwillinge, Ella und Bella, waren auf Besuch bei einer Tante in Böhmen; Ranegg begleitete den Kaiser auf einem Jagdausflug nach Tirol; die beiden Söhne waren in Wien. Der jüngere besuchte da die Kriegsschule – auch ihm stand eine rasche, glänzende Karriere bevor. Der ältere hatte sich verlobt mit der Tochter eines ungarischen Magnaten ... »ein wunderschönes Mädel – und eine Herrschaft von fünftausend Joch als Mitgift ... das verdirbt nichts – aber er wird weiter dienen – der Erzherzog ... Sie wissen ja, er ist der Adjutant des Erzherzogs Wilhelm und sein großer Liebling – der würde es ihm sehr übel nehmen, wenn er quittierte; das wollte er auch gar nicht, er ist ja mit Leib und Seele Soldat.«
»Eine glückliche Familie«, sagte Dotzky.
»Eigentlich ja, das sind wir«, gab Gräfin Ranegg zu. »Und umsomehr tut es mir leid, lieber Dotzky, daß Sie das Schicksal so grausam heimgesucht hat ... Aber es hat doch jeder seine Sorgen«, fügte sie in weinerlichem Tone hinzu. »So macht mir das Leiden meiner armen Mutter viel Kummer – und mein Schwager Hallstein muß jetzt operiert werden – und so verschiedenes andere ...« Es war, als wollte sie seinen Neid dämpfen.
Rudolf war aber nicht neidig. Er konnte sich gar nicht mehr in die Lage jener hineindenken, deren Freuden und Leiden ganz auf die eigenen und nächstliegenden Schicksale und Verhältnisse beschränkt waren, die nichts wußten von der großen Unruhe, der großen Sehnsucht, den großen Kämpfen, die eine mit den Lebensrätseln und sozialen Rätseln ringende Seele bewegen ... Noch am selben Abend reisten die beiden Damen weiter und Dotzky brachte sie zur Bahn. Cajetane war die ganze Zeit sehr schweigsam gewesen. Aber wenn sie ein paar Worte gesagt, so hatte in ihrer Stimme stets verhaltenes Mitgefühl gebebt. Als Mutter und Tochter vom Waggon aus dem Grafen Dotzky, der grüßend vor dessen Fenstern stand, Abschied gewinkt und der Zug sich in Bewegung setzte, da sank Cajetane in die Kissen zurück und brach in Tränen aus.
Die Gräfin sah sie überrascht an:
»Was hast Du, Caji? Ich glaube gar, der junge Witwer hat es Dir angetan ...«
XVII.
Drei Monate später kehrte Rudolf von seiner Reise heim.
Diese drei Monate hatte er in einem einsamen Häuschen zugebracht, das, von grünen Weidetriften umgeben, mitten in den Bergen verborgen lag. Dorthin war er dem Anblick von Menschen und dem Umgang mit ihnen entflohen. Und dort hatte er jene Schrift beendet, die sein Glaubensbekenntnis und sein Tatenprogramm enthielt. Das wollte er in die Welt vorausschicken und dann mit dem gesprochenen Worte weiter ausführen und verbreiten.
Er fühlte sich im Besitze einer Heilslehre und daher als verpflichtet, sie zu verkünden. Die ganze Lehre faßte er in ein Motto: »Miteinander, statt gegeneinander.« Die Geschichte der Zivilisation, wie er sie auffaßte, war ja nur die Geschichte der wachsenden Gemeinsamkeit – zugleich die Geschichte der überwundenen Brutalität.
Wieviel unüberwundene Brutalität heute noch vorherrscht, das gab den Stoff zum längsten Kapitel des Schriftchens ab. Und in welcher Weise sie überwunden werden kann, das suchte ein anderes Kapitel zu verkünden: durch den Tatenmut der Guten, den Wahrheitsmut der Wissenden. Ganz gut ist zwar noch keiner – alles weiß noch keiner; aber das, was die Vorgeschrittenen an Edelsinn und Vernunft besitzen, das müssen sie hervorkehren – im Kampf gegen alles Unedle, das ihnen begegnet – und sei es in den mächtigsten Sphären vertreten; – gegen alles Dumme – und sei es hinter den gelehrtesten und heiligsten Masken verborgen.
Daß der Gang der Zivilisation nur von elementaren, nur von wirtschaftlichen und technischen Faktoren bestimmt werde; unabhängig von dem Wollen und Wirken einzelner Menschen – das
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