Martin, Kat - Perlen Serie
hoffte, dass ihr Dienstherr noch nicht da war. Wenn sie sich beeilte, könnte sie die Zeitung neben sei- nem Gedeck liegen lassen und würde ihm nicht begegnen müs- sen.
Auf dem Weg überflog sie die Überschriften und blieb kurz vor dem Frühstückszimmer wie angewurzelt stehen.
Baron Harwood in London eingetroffen. Berichtet von Raub- überfall und versuchtem Mord.
Ihr Herz setzte für einen Moment aus und begann dann, um- so heftiger zu schlagen. Dem Bericht des Chronicle nach zu ur- teilen, hatte der Baron während eines Überfalls auf Harwood
Hall, seinem Landsitz in Kent, fast tödliche Verletzungen da- vongetragen. Sein Angreifer hatte ihm so schwere Verletzun- gen zugefügt, dass der Baron einen zeitweiligen Gedächtnis- verlust erlitten hatte. Mittlerweile war er jedoch wieder so weit genesen, um persönlich nach London reisen zu können und die Suche nach dem Schuldigen zu betreiben.
Weiterhin war von der wertvollen Perlenkette die Rede, die ihm gestohlen worden war. Allerdings enthielt der Bericht kei- ne Anschuldigungen gegen seine Stieftöchter. Dem Baron war sein Ruf viel zu wichtig, als dass er einen Skandal um seine Fa- milie heraufbeschworen hätte. Stattdessen gab er jedoch die Beschreibungen zweier junger Frauen an, die auf das Haar ge- nau auf Tory und Claire zutrafen.
Wenigstens habe ich ihn nicht umgebracht, dachte Tory er- leichtert. Sofort fragte sie sich jedoch mit einem Anflug von Schuld, ob es nicht besser gewesen wäre, wenn sie es getan hätte.
In diesem Moment ging die Tür zum Frühstückszimmer auf, und der Earl trat heraus. Tory fuhr erschrocken zusammen, verbarg hastig die Zeitung hinter ihrem Rücken und zwang sich, ihren Arbeitgeber anzusehen.
„Guten Morgen, Mylord."
„Guten Morgen, Mrs. Temple. Haben Sie meine Morgenzei- tung gesehen? Timmons legt sie für gewöhnlich auf den Früh- stückstisch."
„Nein, Mylord. Vielleicht ist sie in Ihrem Arbeitszimmer. Soll ich nachsehen?"
„Ich gehe schon." Sobald er sich umgedreht hatte und den Gang hinunterging, versteckte sie hastig die Zeitung in ihrem Rock. Es gefiel ihr gar nicht, dass sie ihn täuschen musste, aber zugleich war sie erleichtert, wie sachlich ihre kurze Unterhal- tung gewesen war.
Zumindest ein Teil von ihr war erleichtert. Insgeheim war sie jedoch zutiefst enttäuscht, dass er sie ansehen konnte, als hät- te er sie nie verlangend an sich gezogen, nie ihre Lippen ge- küsst, nie mit seiner Zunge ...
Tory schalt sich für die Gedanken, die sie sich erlaubte. Un- geachtet ihrer derzeitigen Situation war sie eine wohl erzoge- ne junge Dame und nicht eine dieser Frauen von zweifelhaf- tem Ruf, an die der Graf gewöhnt zu sein schien. Sie würde nicht mehr an die letzte Nacht denken! Fest entschlossen, den Zwischenfall aus ihrer Erinnerung zu verbannen, eilte sie in
das Obergeschoss, um Claire zu suchen und sie wegen des Zei- tungsartikels zu warnen.
Am sichersten war es wohl, London zu verlassen. Doch ihr nächster Lohn stand noch aus, und was sie beide bislang ver- dient hatten, würde sie nicht weit bringen.
Schließlich entschied sie, dass es am wenigsten Aufsehen er- regen würde, wenn Claire und sie einfach blieben, wo sie wa- ren, und hofften, dass keine weiteren Suchmeldungen erschei- nen würden. Vermutlich käme niemand auf die Idee, die aben- teuerliche Geschichte des Barons Harwood mit dem Auftau- chen der beiden Schwestern im Hause des Earls in Verbindung zu bringen.
Tory schauderte kurz. Andernfalls würde sie selbst im Ge- fängnis landen, und der Baron hätte Claire in seiner Hand.
Drei Tage vergingen. Niemand machte eine Bemerkung über den Artikel im Chronicle, doch Tory war immer noch beunru- higt. Zum Glück hatte sie ihre Arbeit, die ihr gar keine Zeit ließ, sich übermäßige Sorgen zu machen.
Nach Lady Aimes' kurzem Besuch veranlasste Tory, dass die Wäsche in den oberen Gästezimmern gewechselt wurde, und machte sich daran, die Bestandsaufnahme der Speisekammer fertig zu stellen. Danach suchte sie Claire.
„Entschuldigen Sie, Miss Honeycutt, haben Sie meine Schwester gesehen? Ich dachte, dass sie vielleicht im Blauen Salon arbeiten würde."
„Das hat sie auch, Mrs. Temple. Als Seine Lordschaft vorbei- kam, hat sie die Möbel poliert. Dabei hatte sie gerade aus dem Fenster gesehen, Sie wissen doch, wie gerne sie den Garten be- trachtet."
„Und?"
„Nun, Seine Lordschaft fragte, ob sie Lust auf einen kleinen Spaziergang hätte. Er sagte, dass er ihr das Rotkehlchennest
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